Stieber - Der Spion des Kanzlers Roman
wurden unruhig. Er schaute über Lamartines Schulter. Lamartine folgte unwillkürlich
seinem Blick – als er nichts entdeckte und sich wieder umwandte, war Udo weg.
Immer noch hielten Kutschen vor dem Haus der Baronin.
Lamartine klopfte an der Tür, der alte Diener öffnete. Diesmal ließ er den Besucher wortlos ein. Als Lamartine in das Foyer
trat, bot sich ihm das gleiche Bild wie bei seinem ersten Besuch. Die Gäste verhielten sich, als sei nichts geschehen. Wieder
kam die Empfangsdame auf Lamartine zu. Sie nahm den Gast beim Arm und führte ihn zur Treppe. »Er wartet schon auf Sie, Monsieur!«
erklärte sie. »Zimmer drei. Klopfen Sie viermal!«
Lamartine ging ins Obergeschoß hinauf und klopfte viermal gegen die genannte Tür. Die Baronin öffnete.
Stieber saß auf dem Bett und nippte an einem Glas Sekt. Seine Jacke hatte er ausgezogen und über den Herrendiener gehängt.
Er trug jetzt einen dunklen Anzug mit Hemd und Kragen. Stieber wirkte wie ein etwas gehemmter Bordellbesucher aus dem Umland.
»Trinken Sie einen mit, mein Freund!« forderte er Lamartine auf.
Lamartine setzte sich zu Stieber auf die Bettkante. Die Baronin nahm die Flasche aus dem auf dem Boden stehenden Sektkübel,
schenkte Sekt in ein Glas und reichte es dem Gast. Sie lächelte, und Lamartine fiel wieder auf, wie schön diese Frau war.
Dann nahm auch die Chefin neben Stieber Platz und legte ihren Arm um seine Schultern.
Lamartine und Stieber stießen an. Lamartine prostete auch der Baronin zu.
Als sie die Gläser absetzten, schnalzte Stieber mit der Zunge und sagte laut: »Wer hätte gedacht, daß wir uns so schnell wiedersehen?«
Lamartine schaute auf das Etikett der Sektflasche. Es war ein deutsches Erzeugnis: »Lutter & Wegner«.In seiner Heimat
hätte dieser Sekt keine Freunde gefunden. Er war süß und hatte zuviel Säure.
»Ich habe Krebse in Buttermilch setzen lassen«, sagte die Baronin. »Sicher habt ihr beide Hunger.«
»Krebse in Buttermilch?« fragte Lamartine ungläubig.
Stieber lächelte. »Ihr Gedärm säubert sich, und sie verlieren den Modergeschmack. Von der Berlinerin könnt sogar ihr in Paris
lernen.«
»Wieso haben Sie mich um meine Hilfe gebeten, wenn Sie Bismarck auf Ihrer Seite haben?« fragte Lamartine unvermittelt.
Stieber winkte ab. »Ich habe nicht mehr daran geglaubt. Ich dachte, er hat mich fallenlassen, der Junker. Aber ich habe ihm
unrecht getan ... und jetzt sitze ich hier. Am schönsten Ort dieser Stadt.« Bei diesen Worten küßte ihn die Baronin, was Stieber in Lamartines
Gegenwart peinlich zu sein schien. »Wo ist das Dossier vom alten Hinckeldey?« fragte er schnell.
»Ich habe es in Sicherheit gebracht.«
»Bringen Sie es unverzüglich her!« forderte Stieber den Franzosen in einem schon merklich härteren Ton auf.
»Das wird nicht einfach sein!«
»Was ist das Problem?«
»Meine Rehabilitation. Sie haben sie mir versprochen.«
Stieber zeigte ein gequältes Gesicht. »Sie sollten es sich nochmal überlegen, Lamartine. Selbst wenn ich Sie entlaste und
Ihren Landsleuten versichere, daß Sie keinen Widerstandskämpfer wissentlich verraten haben, wird man Sie nicht mehr in den
Polizeidienst aufnehmen.«
»Meine Frau lebt in Frankreich, und sie erwartet ein Kind.«
»Ich dachte, Sie hätten in Berlin eine neue Gefährtin gefunden?« fragte Stieber lauernd.
»Ein Mann wie ich tut sich nicht mit einer Hure zusammen.«
Obwohl dieser Satz die Gastgeberin beleidigte, verzog die Baronin von Thun keine Miene. Stieber wandte sich ihr zu: »Sieh
doch mal nach deinen Gästen! Nicht daß sie dir den guten ›Lutter & Wegner‹ wegtrinken, ohne dafür zu bezahlen. Und
die Krebse in der Buttermilch sollen sich beeilen!«
Die Baronin stand auf, nickte Lamartine zu und verließ das Zimmer. Stieber schenkte beiden Sekt nach. Dann nahm er sein Glas
und begann, am Sekt nippend, in dem Boudoir auf und ab zu gehen. »Ich denke anders als Sie über Damen, die sich für Geld verkaufen,
Lamartine.« Er ließ Lamartine Zeit, seine Äußerung zurückzunehmen. Als der aber keine Anstalten machte, fuhr Stieber unbekümmert
fort. »Sie wundern sich sicher, warum ich so eng mit der Baronin bin ... warum ich hier eine Art Hausfreund bin ...«
Lamartine nickte.
»Anstatt die Damen zu verfolgen, habe ich ihre Motive untersucht, ihren Alltag, die Zwänge, unter denen sie dieses oder jenes
tun. Zu meinem Erstaunen entdeckte ich, daß viele Dirnen durch den Umgang
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