Stieber - Der Spion des Kanzlers Roman
hinderliche Bürokratie eingeengt werden?Wollten Sie noch nie alle Fesseln der kleinlichen Vorschriften abwerfen und einen Fall auf Ihre Art zu Ende bringen?«
»Ja, schon, aber ...«
»Na, sehen Sie, Lamartine. Das alles kann ein Geheimagent. Das alles werden Sie können, wenn Sie sich mit mir zusammentun
und in mein Telegraphenbüro eintreten ...«
»Ich dachte, man hat Sie da oben vergessen. Und jetzt wollen Sie einen deutschen Geheimdienst aufbauen?«
»Bismarck hat mich nie vergessen. Das hat er durch seine Unterschrift unter die Freilassungsorder gezeigt. Gut – ich habe
einige Tage an ihm gezweifelt. Ich bin eben auch nur ein Mensch. Jetzt bin ich wieder auf dem richtigen Weg. Ich weiß, daß
er seine Hand über mich hält ...«
»Das hat er sich lange überlegt. Nicht viel – und Sie wären im Gefängnis draufgegangen!«
Stieber lief rot an, Lamartine hatte ihn an seinem empfindlichsten Punkt getroffen. Der Deutsche fuhr – nur mühsam seinen
Tonfall kontrollierend – fort: »Dem Kanzler waren durch die Rangeleien mit dem Kaiser die Hände gebunden. Daß ich ihm seinen
deutschen Geheimdienst aufbauen soll, hat er mir schon vor dem Krieg gesagt. Das Telegraphenbüro war seine Idee. Ein moderner
Geheimdienst muß flexibel arbeiten. Das geht nur außerhalb des staatlichen Apparates. Ein außerstaatlicher Informationsdienst
entbindet Bismarck von der lästigen Pflicht, jedesmal Kaiser und Parlament fragen zu müssen, wenn er geheimdienstliche Informationen
braucht. Für operative Einsätze gibt sowieso kein Parlament Geld. Aber für ein Nachrichtenbüro zahlt der Kaiser gerne – zumal
die britische Agentur Reuter um die Genehmigung für die Eröffnung eines Büros in Berlin ersucht hat. Es war die Pflicht der
Deutschen, den Briten in der Hauptstadt zuvorzukommen. So schlug Bismarck zwei Fliegen mit einer Klappe: Er verhinderte ein
britisches Monopol im Nachrichtenwesen und er finanzierte sich selbst ein geheimes und unabhängiges Instrument zur Durchführung
seiner zukünftigen Politik.« Stieber atmetedurch. »Es stimmt, er hat lange nichts unternommen, um mich aus diesem Schlamassel herauszuholen. Schwarck und Simons bewegen
sich eben auf einer Ebene, die für den Kanzler nicht erreichbar ist – so tief unten liegt sie.«
Lamartine lachte bitter: »Jetzt sind Sie kindisch, Stieber. Wenn Bismarck gewollt hätte ...«
Es wurde geklopft. Die Empfangsdame trat ein. »Der Franzose erwartet Sie jetzt!« teilte sie Stieber mit.
Lecoq – dachte Lamartine. Sein Herz schlug schneller.
Stieber fiel wieder in den herrischen Ton, den Lamartine aus Paris von ihm kannte. »Sie warten hier und rühren sich nicht
von der Stelle, Lamartine! Lassen Sie sich alles noch einmal durch den Kopf gehen!« Er wandte sich der Empfangsdame zu. »Sie
sorgen mir dafür, daß unser Gast sich nicht langweilt – und daß er nicht auf die Idee kommt, sang- und klanglos zu verschwinden.«
Die Empfangsdame deutete einen Knicks an, als Stieber eilig das Zimmer verließ. Sie ging zum Sektkübel und schenkte Lamartine
Sekt nach, dann ließ sie sich zu seinen Füßen auf dem Boden nieder und begann, ihm die Schuhe auszuziehen.
Lamartine war so mit seinen Gedanken beschäftigt, daß er alles geschehen ließ. Sie zog ihm auch die Socken aus und massierte
seine Füße. Ihre Hände waren warm, es genügte, daß sie die Fußsohlen nur leicht knetete: Lamartine entspannte sich. Er seufzte
und legte seinen Kopf in den Nacken.
Nach einer Weile erfüllte ihn eine große Ruhe. Lamartine wußte wieder, was er wollte: Mia war ermordet worden, und er würde
den Täter seiner Strafe zuführen. Er fühlte sich wieder als Polizist.
»Bitte, nicht so fest!« bat er die Dame. Sie zuckte mit den Achseln, ließ Lamartines rechten Fuß los, stand auf und ging zu
dem kleinen Wandspiegel, um mit der flachen Hand ihre etwas windschief gewordene Hochfrisur zurechtzurücken.
Stieber kam zurück. »Haben Sie es sich nochmal überlegt?«fragte er Lamartine. Er klang jetzt nervös und unduldsam. Lamartine schüttelte den Kopf. Stiebers Backenknochen traten hervor.
»Schade! Ich hätte einen anständigen Kriminalisten wie Sie gut brauchen können. Aber wenn Sie nicht wollen ...« Er machte eine Pause, um Lamartine die Gelegenheit zu geben, sich doch noch anders zu besinnen. Lamartine aber dachte
an die Leiche des Gaston Franc auf der Parkbank im Bois de Boulogne – und er schwieg. »Was hindert Sie
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