Stieber - Der Spion des Kanzlers Roman
wirklich? Ihr Patriotismus?
Das ist ein unsicheres Gefühl – zumal Politik in unseren Breiten zukünftig in anderen Dimensionen gemacht werden wird.«
»Ein Europa unter den Preußen! Meinen Sie das?« fuhr Lamartine Stieber an.
»Also doch, Sie hängen an Frankreich, obwohl Ihr Land Sie verstoßen hat. Finden Sie das nicht etwas hündisch, lieber Lamartine?«
»Ach was!« wehrte Lamartine ab. »Das ist es nicht. Wenn Frankreich Männer wie Lecoq braucht, scheiße ich auf dieses Land!«
Stieber brüIlte: »Was ist es dann?«
»Ich sagte es schon: Es ist die Leiche. Es ist der tote Gaston Franc.«
Stieber lachte ihn aus. »Ein Toter. Bei diesem Krieg sind Hunderttausende einen schrecklicheren Tod gestorben. Und Sie halten
sich an diesen einen Toten.«
»Ja. Ich halte mich an diesen einen Toten. Für all die anderen Toten ist kein Polizist zuständig. Aber der Fall Franc – das
ist ein Kriminalfall, ein ungelöster Kriminalfall.«
»Selbst wenn tagtäglich und überall Menschen umgebracht werden, ohne daß man ihre Mörder verurteilt? Gestatten Sie, Lamartine,
aber ich halte Sie für verbohrt.«
»Der Kriminelle hält den Ermittler immer für verbohrt!«
»So machen Sie sich halt lächerlich, Lamartine! Sie haben Ihre Chance gehabt. Nun gehen die Dinge ihren Gang. Sie werden in
Ihre Heimat reisen. Draußen wartet Lecoq. Erbrennt darauf, Sie in Handfesseln zum Bahnhof zu bringen. Und ich werde ihn nicht daran hindern!«
Lamartine versuchte, seine Aufregung zu verbergen: »Ich glaube, Sie vergessen, daß ich im Besitz Ihres Dossiers bin. Ohne
Dossier keinen Sieg über Ihre Widersacher, ohne Sieg keine neue Geheimdienstkarriere! Oder glauben Sie, Schwarck und Simons
lassen Sie nun in Ruhe? Ganz abgesehen davon: Bismarck kann Sie aus dem Gefängnis holen, aber die Anschuldigungen gegen Sie
stehen – in aller Öffentlichkeit.«
Stieber musterte ihn abschätzig. »Ich habe mich in Ihnen getäuscht, Lamartine. Sie sind wirklich ein Kleingeist!« Er riß die
Tür auf und trat hinaus. Draußen sprachen mehrere Männer halblaut durcheinander. Dann führte Stieber Udo herein. Udo drehte
verlegen seine Mütze vorm Bauch. Stieber behandelte ihn ohne die Vorsicht, die er sonst im Umgang mit Fremden walten ließ.
»Sag ihm, was du mir gesagt hast!« forderte er Udo auf.
Udo zierte sich, in Lamartines Gegenwart war er gehemmter als auf dem Flur, wo er anscheinend das große Wort geführt hatte.
Stieber versetzte ihm einen leichten Stoß, und Udo leierte wie ein Automat: »Da mir der Franzose schon mehrmals verdächtig
aufgefallen ist, habe ich ihn nicht mehr aus den Augen gelassen. Vor allem, als er etwas in ein Schließfach sperrte. Das wollte
der Ausländer mir auch noch dringend verheimlichen. Ich bin ihm bis hierher gefolgt und habe nun zu vermelden, daß der Schlüssel
in seinem rechten Strumpf steckt.«
Stieber fragte nach der Nummer des Schließfaches, und Udo nannte sie ihm. Dann wandte sich Stieber im gleichen, rohen Ton
an Lamartine. »Heraus damit oder soll ich Sie visitieren lassen?«
Lamartine bückte sich, schnürte den Schuh auf und zog den Schlüssel aus dem Strumpf. Stieber schaute sich die Nummer auf der
Raute an. Dann ging er mit dem Schlüssel hinaus. Die Empfangsdame folgte ihm so eilig, als wäre es ihr unangenehm, mit Udo
und Lamartine allein im Zimmer zu bleiben.Die Tür wurde von außen abgeschlossen. Lamartine war mit dem Mann allein, der ihn ans Messer geliefert hatte.
»Tut mir leid, aber er hätte mich bestraft, wenn ich es ihm nicht gemeldet hätte!« erklärte Udo leise. Lamartine vermied es,
ihm in die Augen zu schauen. Er sehnte sich danach, daß Lecoq hereinstürmen und ihn abführen würde. »Ich wollte Ihnen nicht
schaden, ich wollte nur meine Haut retten!«
»Laß mich in Ruhe!« zischte Lamartine.
Udo setzte sich in einen Sessel und schaute die Wand an. »Sie vergessen, daß ich Sie vor diesem anderen Franzosen gerettet
habe, auf der Bahnhofstoilette. Jetzt kungelt der auch noch mit Stieber. Was glauben Sie, was der Kerl sich einfallen läßt,
um sich für diesen Kopfverband an mir zu rächen?« maulte Udo.
»Dann hättest du nicht herkommen sollen.«
»Und Stieber? Mit dem ist nicht gut Kirschen essen, wenn er sich verraten fühlt.«
»Mach dir keine Sorgen, Udo, er nimmt dich sicher in seine Dirnenheilungs-Cassa auf, falls Lecoq dir ein Leid zufügen sollte.«
Udo schwieg.
»Lecoq wird dich in Ruhe lassen«, erklärte
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