Stieber - Der Spion des Kanzlers Roman
Lamartine nach einer Weile gelassener. »Er will nur mich, und wenn er das hat,
was er will, wird er abziehen.«
»Der ist doch krank«, flüsterte Udo. »Auf dem Flur war er nur eine Sekunde mit mir allein. Ich kann Ihnen nicht sagen, was
er in dieser Sekunde getan hat.« Lamartine hätte es gerne gewußt, aber er fragte nicht danach. »Visitiert hat er mich auch.
Jetzt hat er sein Stilett wieder. Er wird mich diesmal damit totstechen, ich hab’s in seinen Augen gesehen«, jammerte Udo.
»Stieber wird es nicht zulassen«, versuchte Lamartine ihn zu beruhigen, aber sehr überzeugend klang er nicht.
»Nicht einmal meine eigene Waffe hat er mir gelassen, die Franzosensau!« jammerte Udo.
Lamartine verstand Udo nicht gleich. »Was soll Lecoq mit einem Schlagring anfangen?«
»Es ist kein Schlagring. Es ist ein Eispickel, den ich einem Bierkutscher bei einem Unfall gestohlen habe. Seit Jahren führe
ich den Stölzel mit mir, er bringt mir Glück, Sie glauben ja nicht, wie roh manche Kerle mit unsereinem umspringen, wenn sie
ihr Geschäft verrichtet haben. Mehr als einmal hat der Eispickel mir das Leben gerettet ...« Udo hielt in seinem Geplapper inne. Offensichtlich hatte er etwas gesagt, was er nicht hatte sagen wollen.
Lamartine hatte nur mit halbem Ohr zugehört, aber Udos Stocken machte ihn hellwach. Er rekapitulierte das, was er wahrgenommen
hatte. Er dachte nach.
Nach einer Weile trat er an Udo heran. Der Junge sprang auf. Lamartine zog ihm blitzschnell die Jacke über den Kopf, so daß
Udos Arme fixiert waren. Er tastete Udo ab.
Lecoq war etwas entgangen, als er Udo durchsucht hatte: In einer auf der Rückenseite der Jacke eingenähten Tasche fand Lamartine
die Lederbörse. Sie enthielt nur große Scheine. Es handelte sich um die Summe, die Lamartine für Bjerregaards Informationen
gezahlt hatte.
Lamartine stieß den verdutzten Udo in den Sessel zurück. »Du hast Bjerregaard umgebracht!« fuhr er ihn an.
Udo schüttelte fassungslos den Kopf. In seinen Augen las Lamartine die Angst, die er von seinen Verhören her kannte: Die Angst
des Täters, entlarvt zu werden.
»Das ist das Geld, das ihr mir abgenommen habt!« hielt Lamartine ihm vor.
»Aber das heißt doch nichts.«
»Doch. Es ist der gesamte Betrag. Das heißt: Er ist nicht geteilt worden. Du hast Bjerregaards Anteil an dich gebracht.«
»Sie sind verrückt geworden.«
»Ich habe dich auf dem Bahnhof beobachtet. Vor und nach dem Mord. Davor bist du hinter jedem Freier hergerannt, danach hast
du sie hochmütig abblitzen lassen. Du bist nur zumBahnhof gekommen, um es ihnen heimzuzahlen, um das Gefühl auskosten zu können, nicht abgewiesen zu werden, sondern selbst
abzuweisen. Du hattest Geld in der Tasche. Sehr viel Geld für deine Verhältnisse.«
»Ich werde mich bei Herrn Stieber über Sie beschweren.«
»Tu das, Udo! Stieber wird sich freuen, von mir zu erfahren, wer Bjerregaard auf dem Gewissen hat. Ist dir überhaupt klar,
daß Bjerregaard und Stieber Freunde waren?«
Udo nickte.
»Weiter!« drängte Lamartine, es packte ihn eine Euphorie wie zu Hause, am Quai des Orfèvres – wenn er morgens, bei Sonnenaufgang,
kurz vor einem Geständnis stand. »Als wir uns kennenlernten, hast du alles getan, um mich mit Bjerregaard zusammenzubringen.
Nichts war dir wichtiger: Du wußtest, daß ich jeden Preis zahlen würde. Als ich aber zum zweiten Mal zu dir kam, damit du
mich mit Bjerregaard zusammenbringst, hast du mich abfahren lassen wie den dicken Freier in der Bahnhofshalle.«
»Sie bilden sich da was ein, Herr Lamartine ...«
»Stieber wird anderer Meinung sein, Udo. Das Ganze hat nämlich eine Logik. Und es gibt Indizien. Du hast mich in der Bahnhofsgaststätte
einfach sitzenlassen, weil du wußtest, daß es keinen Sinn mehr hat, mit mir ins Geschäft zu kommen. Es hatte keinen Sinn mehr,
weil der wichtigste Mann des Geschäftes tot war: Bjerregaard. Du hattest ihn nur kurz vorher ermordet.«
»Nein!«
»Ein anderes Indiz ist die Mordwaffe. Am Tatort ist keine gefunden worden. Man wird aufgrund der Kopfverletzung festgestellt
haben, daß es sich um eine spitze, metallene Waffe gehandelt hat. Ein äußerst gefährliches Instrument, das nur von kaltblütigen
Menschen benutzt wird. Um jemandem eine solche Waffe in den Schädel zu stoßen, muß man äußerst kaltblütig sein, nicht wahr,
Udo?«
»Aber Bjerregaard war doch mein Freund!« beteuerte Udo.»Um so schlimmer. Ich habe bisher
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