Stieber - Der Spion des Kanzlers Roman
geben.«
Lamartine mochte keine Militärs, deshalb hätte er gerne etwas dazu gesagt. Da er aber fürchtete, sich dann endlose Tiraden
anhören zu müssen, ließ er es sein.
»Wo sollte Franc an diesem Abend arbeiten?«
»Das kann ich Ihnen genau sagen, junger Mann«, tönte der Veteran. »An einem Ort, den ein aufrechter Franzose nur mit der Waffe
in der Hand betritt. Im Palais an den Champs-Elysées, dort hat er sich anheuern lassen ...«
Nun verstand Lamartine den Ärger des Veteranen. Das Palais Paiva hatte der deutsche Guido Graf Henckel von Donnersmarck seiner
Gemahlin erbaut, einer aus Moskau stammenden Kurtisane namens Lachmann, die er in der Pariser Halbwelt als Thérèse Araujo
de Paiva kennengelernt hatte. Guido Henckel von Donnersmarck war ein deutscher Zink- und Eisenindustrieller aus der schlesischen
Linie seiner Familie. Er hatte sich – unter dem geschickten Einfluß der Madame Lachmann – Verdienste um den Ausbau des schlesischen Kohlereviers erworben. Vor dem Krieg war er in der Zeitung Lamartines als jener
Typ des modernen Wirtschaftsführers gefeiert worden, der über die Grenzen seines Landes hinweg Bedeutung für ganz Europa gewonnen
hatte, weil er mit seiner Arbeit Vorbilder schaffte für die Industrialisierung der Kohlengruben in Lothringen und Nordfrankreich
und für die englischen Reviereum Manchester. Vor dem unseligen Streit Frankreichs mit Preußen wegen der Thronfolge der Habsburger auf dem Königsthron in
Madrid, der schließlich zum Krieg geführt hatte, hatte man den Schlesier in Paris geduldet, ja sogar seine Feste besucht.
Als sich jedoch die Stimmung zwischen Paris und Berlin verschlechterte, sagten viele der zu Henckel von Donnersmarck geladenen
Aristokraten ab, und es mehrten sich in der Presse die Angriffe gegen den schlesischen Grafen und seine Zurschaustellung deutscher
Kaufkraft. Schließlich wurde das Palais Paiva auch in Lamartines Zeitung als Hort deutscher Großmannssucht bezeichnet. Offen
forderten Kommentatoren die Enteignung des Grafen, und kein einziger Vertreter des Adels oder des Großbürgertums wagte sich
noch in die Nähe der mittlerweile als deutsches Agentennest geltenden Residenz. Als Donnersmarck dann auch noch zusammen mit
dem Bankier Bleichröder für Bismarck die Reparationsverhandlungen in Versailles führte, haßte Paris den Grafen mehr als die
Generale, die die Stadt wochenlang beschossen und schließlich eingenommen hatten.
»Um welches Diner handelte es sich?« fragte Lamartine. »Mir ist nichts bekannt von einem großen Empfang der Henckel von Donnersmarcks.«
»Natürlich ist Ihnen nichts bekannt – weil Sie ein Franzose und kein Hunne sind«, antwortete Brunoy polternd. »Die Deutschen
wollten unter sich bleiben. Die hatten schließlich vor, die Einnahme unserer Hauptstadt zu feiern ...«
Lamartine nickte nachdenklich.
»Ich trauere diesem Verräter nicht nach«, schrie der Alte plötzlich auf, dann aber besann er sich wieder und erklärte ruhiger:
»Wer weiß, was er dort gewollt hat. Ich bin ungerecht gegen ihn – vielleicht. Mit mir hätte er doch offen reden können. Aber
er tat so, als wäre ich ...« Brunoy machte eine kurbelnde Bewegung vor seiner Stirn, seine Lippen zitterten. Dann fing er sich wieder, nahm erneut
Haltung an und schnurrte, als handelte es sich um eine förmliche Einladung: »Das Dinerfand in Anwesenheit des deutschen Kaisers und seines Kanzlers Graf Bismarck statt. Die Führungsspitze unseres Feindes also ... Vielleicht wollte der Partisan überlaufen?!«
»Und Sie meinen, die Deutschen schleppen jeden Überläufer gleich zum Essen mit ihrem Kaiser?«
»Sie halten mich auch für einen alten Spinner, stimmt’s?!«
»Nein, wirklich nicht. Ich bin ebenso ratlos wie Sie. Aber da fällt mir ein: Die Deutschen sind äußerst vorsichtig im Umgang
mit uns Franzosen. Der Hilfskoch muß in Besitz eines besonderen Ausweises gewesen sein, der ihm den Wechsel von einem der
unbesetzten Stadtviertel in ein deutsch besetztes Viertel erlaubte. Und wie kam er durch den streng kontrollierten Zugang
in das Palais?«
»Ich kenne diese Ausweise. Sie heißen Freipässe. Man kommt damit überall durch, selbst bei den Deutschen. Franc hat ihn mir
gezeigt. Er war mächtig stolz auf den Wisch vom Kriegsministerium ...«
»Das Kriegsministerium stellt diese Ausweise aus?« fragte Lamartine kleinlaut. Er schämte sich ein wenig vor dem Alten; eigentlich
hätte er
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