Stieber - Der Spion des Kanzlers Roman
nirgendwo auf der Welt gegeben hat: Das Volk – die Leute von der Straße, die Arbeiter, die kleinen Händler und
die Hausfrauen und Mütter – wird sich den Staat so einrichten, wie er für die Mehrheit der Bevölkerung am besten ist.« Sie
machte eine Pause und sah sich in der Runde um.»Unser Anliegen ist das Anliegen aller Franzosen, ja aller Menschen auf dieser Welt. Wir wollen nicht mehr für die Adligen
und Großbürger schuften. Wir wollen nicht mehr hungern. Deshalb haßt uns die Regierung. Sie weiß, daß wir sie wegfegen werden.
Deshalb hat sie sich mit dem größten Feind Frankreichs verbündet: mit den Deutschen. Habt keine Angst, Männer! Habt keine
Angst, Frauen! Hinter uns steht nicht nur das französische Volk. Hinter uns steht die Erste Kommunistische Internationale.
Wir werden alle Gewalten im Staat übernehmen. Wir werden die Bürger der Stadt bewaffnen, wir werden die verlassenen Fabriken
an Arbeitergenossenschaften übergeben, wir werden die Klerikalen aus dem Parlament schmeißen und in ihre Kirchen zurückschicken,
und wir werden dafür sorgen, daß die französischen Frauen die gleichen Rechte genießen wie ihre Männer. Wir werden siegen.
Wir werden unsere Feinde vertreiben!« Sie stieß einen Arm hoch und ballte die Fäuste.
Die Gäste brachen in Beifall aus. Lamartine wurde unsanft angestoßen, dann applaudierte auch er. Er wandte sich an den, der
ihn angestoßen hatte: »Wer ist das?«
Der Kerl sah ihn verständnislos an: »Die kennst du nicht? Das ist doch Léontine Suétens!«
Lamartines Gehilfen trafen kurz nach ihm wieder im Präsidium ein. Sie machten keinen Hehl aus ihrem Ärger. Sie waren der Meinung,
daß Lamartine ihnen ein historisches Ereignis vermasselt hatte.
Der Inspektor war an ihre Launen gewöhnt, er behandelte sie gewöhnlich wie herrschsüchtige Kinder, die man so lange links
liegen läßt, bis sie ihre Sturheit von selbst aufgeben. Diesmal aber bestellte er sie sofort in sein Zimmer und ließ ihnen
keine Zeit, sich in ihren Verschlag zurückzuziehen, in dem es so stark nach schmutzigen Socken und altem Zigarettenrauch stank,
daß Lamartine manchmal eine Arbeit lieber selbst erledigte, als den Raum zu betreten.
Ohne Umschweife verlangte er ihren Bericht. Die beiden waren überrascht gewesen, den Zoologischen Garten am Mittag verschlossen
zu finden. Der Pförtner hatte sie nicht einlassen wollen, woraufhin sie die Marken der Pariser Polizei vorgezeigt hatten.
Erst dann waren sie in die Verwaltung geführt worden. Dort hatte man eigenartig langmütig auf sie reagiert, man hatte sich
sogar geweigert, in den Bestandlisten des Zoos nachzusehen, ob ein Burchell-Esel vorhanden war. Daraufhin hatten Lamartines
Mitarbeiter gedroht, diejenigen Angestellten, die sich weiter unkooperativ verhielten, ins Präsidium vorladen zu lassen. Es
war eine kleine Konfusion entstanden, der Direktor des Zoos war herbeigerufen worden. Der hatte ihnen schließlich mitgeteilt,
daß ein Burchell-Esel Eigentum des Pariser Zoos war.
Sie hatten sich schon verabschiedet, berichteten die beiden Lamartine weiter, da fiel ihnen ein, daß ihnen aufgetragen worden
war, sich den Burchell-Esel auch zeigen zu lassen. Der Direktor war angesichts dieser Bitte deutlich nervöser geworden. Er
hatte dennoch einen Mitarbeiter gebeten, die Polizisten zum Stall des Tieres zu führen, und war verschwunden. Als die beiden
nun durch den geschlossenen Zoo geführt worden waren, war ihnen aufgefallen, daß viele Käfige leer waren. Auf ihre Frage nach
dem Verbleib der Tiere hatte der Assistent des Direktors geantwortet, die meisten Tiere befänden sich in ihren Häusern, weil
es um diese Jahreszeit draußen zu kalt für sie sei. Aber im Stall des Burchell-Esels hatte es eine Überraschung gegeben: Der
Stall war leer gewesen.
Auch der Assistent des Direktors hatte sich sehr erstaunt gezeigt und auf der Stelle eine Anzeige wegen Diebstahls erstattet.
Auf dem Rückweg zur Verwaltung hatte einer der beiden Polizisten in das eine oder andere Tierhaus geschaut, aber außer ein
paar Ratten und Mäusen nichts entdeckt. Die anschließende Befragung der Angestellten des Zoos hatte keinen Aufschluß über
den Verbleib der Tiere erbracht, da alle behauptet hatten, ebenso überrascht zu sein wie die Polizisten.
»Gute Arbeit«, sagte Lamartine und entließ die beiden. Sie schienen sich über das Lob ihres Chefs zu freuen.
Der Inspektor setzte sich wieder über
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