Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Stieber - Der Spion des Kanzlers Roman

Titel: Stieber - Der Spion des Kanzlers Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Brenner
Vom Netzwerk:
beiden, sie seien auf dem Weg zu einer Kundgebung der Kommune.
     Die Aufständischen würden die Macht in der Stadt übernehmen, und sie wollten dabeisein und sehen, was vor sich ging.
    Lamartines Laune wurde noch schlechter. Er ärgerte sich, daß die beiden, die er für Drückeberger und Dummköpfe hielt, mehr
     wußten als er. Er ärgerte sich auch darüber, daß er über der Arbeit des Vormittages völlig vergessen hatte, was sich außerhalb
     des Gebäudes tat. Aber Lamartine hatte keine Angst. Er wußte, daß niemand seiner Frau und dem ungeborenen Kind etwas antun
     würde, er wußte sogar, daß es sich bei demAufstand – wenn es denn wirklich einer war – nur um ein kurzes Aufheulen der Zukurzgekommenen handelte, die den Kapitulationsvertrag
     mit den Deutschen als Anlaß dafür nahmen, Sorge um Frankreich zu heucheln. Wenn sie sich ausgetobt hatten, würden sie sich
     in die Kneipen verziehen, und kein Mensch würde mehr ein Wort über den Kapitulationsvertrag verlieren.
    Lamartine trug den beiden Mitarbeitern auf, zum Pariser Zoo zu gehen, sich zu erkundigen, ob es dort einen Burchell-Esel gab,
     und sich gegebenenfalls das Tier zeigen zu lassen. Sie schauten sich an, als habe ihr Chef den Verstand verloren, aber zu
     protestieren wagten sie nicht. Als sie wortlos abzogen, kam Lamartine der beruhigende Gedanke, daß es mit dem Umsturz der
     Kommune nicht sehr weit her war, wenn die Mitläufer noch, ohne zu mucken, ihre Pflicht erfüllten.
    Anschließend machte sich Lamartine auf den Weg zu einem kleinen Bistro am Boulevard St. Michel, um einen Kaffee zu trinken
     und etwas zu essen – falls es etwas gab. Die Straßen waren jetzt überfüllt, die wenigen Kutschen, die unterwegs waren, steckten
     im Gedränge fest. Die Menschen schrien wild durcheinander, einige brüllten Parolen, deren Sinn Lamartine nicht verstand. Eine
     Gruppe schmutziger Männer mit Werkzeugen zog in breiter Front in Richtung Norden, um weitere Barrikaden zu errichten. Dennoch
     hatte Lamartine immer noch nicht den Eindruck, daß sich etwas tat, was über die üblichen Aufwallungen hinausging. Auch waren
     nirgendwo Polizeikräfte oder Militär zu sehen. Im Regierungspalast schien man also die Kommune nicht sehr ernst zu nehmen.
    Es gab kein Stück Brot mehr in dem Bistro. Der Wirt erklärte stolz, vor einer Stunde sei eine Streife der Kommune hereingekommen
     und habe ihn um eine Unterstützung für die Kameraden auf den Barrikaden gebeten, da habe er, ohne lange zu überlegen, sein
     ganzes Brot weggegeben. Lamartine wußte, daß die Brote des Wirtes seit Tagen in der Vitrine gelegen hatten. Wahrscheinlich
     waren sie hart oder sogar verschimmelt gewesen. Immerhin bekam er als einziger einenKaffee, die anderen mußten billigen Rotwein trinken. Einige der Gäste waren bereits schwer betrunken, andere schliefen mit
     den Köpfen auf den Tischplatten. Das sonst so ruhige Bistro wirkte wie ein Heerlager. Lamartine blies den Kaffee kalt und
     trank ihn in kleinen, hastigen Schlucken. Er wollte schnell wieder weg.
    Da stürzte ein junger Mensch mit wirrem, schwarzem Haar und blitzenden Augen herein und schrie, mit den Armen in der Luft
     herumfuchtelnd: »Sie kommt! Sie kommt hierher. Léontine kommt!« Die Männer sprangen auf, die Schlafenden wurden angestoßen
     und hochgerissen. In wenigen Sekunden herrschte Stille in dem Lokal, die Gäste standen stramm, einige hatten sogar die Hände
     militärisch an die Hosennaht gepresst. Andere drängten von draußen herein, in der offenen Eingangstür kam es zu einem Stau,
     weil zwei Kutscher sich gegenseitig anrempelten. Dann öffnete sich eine Gasse, und eine Frau trat ein.
    Sie war klein und stämmig. Ihre dunkelblonden Haare waren lieblos abgeschnitten worden, und die abstehenden Büschel hatte
     sie – nach Art der Köchinnen – mit Klammern gebändigt. Ihr Kleid war einfach und lang, eigentlich handelte es sich nur um
     einen Arbeiterinnen-Kittel mit schmalen weißen Längsstreifen; Lamartine fühlte sich etwas an die Berufskleidung der Metzger
     erinnert. Die Frau hatte ein derbes Gesicht, ihre Augen waren lebhaft, ihre Nase war breit wie nach einem Faustschlag. Lamartine
     fielen ihre Ohrringe auf, an zwei Kugeln hingen Glöckchen. Um den Hals trug sie ein Amulett, an dem sie herumspielte, während
     sie sich in der Kneipe umsah.
    »Leute«, schrie sie plötzlich so laut, daß Lamartines Unterarm vor Schreck vom Tisch rutschte. »Wir sind dabei, etwas zu vollbringen,
     was es noch

Weitere Kostenlose Bücher