Stieber - Der Spion des Kanzlers Roman
verschmähte Schüssel beugte. »Warum sagst du uns nicht, wenn du anderswo ißt? Ich mache mir die Arbeit doch auch deinetwegen.
Du mußt doch gesund bleiben, mein Junge!« jammerte sie.
Lamartine kauerte über seiner Zeitung. Im Flur war einvorsichtiges Zischen zu hören: Der Schwiegervater wartete darauf, daß seine Frau ihm Lamartines Essen brachte. Die Alte nahm
die Schüssel und verließ schnaufend den Raum.
»Misery loves company« war eine Randglosse auf der ersten Seite der Zeitung überschrieben. Erst als Lamartine die französische
Übersetzung las, verstand er und nickte. Dann ließ er die Zeitung sinken und schaute zur geschlossenen Tür hinüber. Zum ersten
Mal ertappte er sich bei dem Gedanken, daß er eine Möglichkeit finden mußte, die Eltern Jeannes loszuwerden, bevor sein Kind
zur Welt kam. Aber sofort verließ ihn der Mut: Aus ihrem eigenen Haus würde er die beiden Alten nicht hinausbekommen, also
mußte er eine für die junge Familie geeignete Wohnung finden – ein Ding der Unmöglichkeit im besetzten Paris. Die Deutschen
hatten die meisten großen Wohnungen für ihre Offiziere und die Entourage des neuen Kaisers requiriert. Wer auf einer Wohnung
saß, gab sie in derart unsicheren Zeiten nicht auf, weil er damit rechnen mußte, daß die frisch renovierte, neue Wohnung,
in die er umziehen wollte, noch vor seinem Einzug zusammenkartätscht wurde oder das Interesse der Besatzer auf sich zog, deren
Späher durch die Straßen zogen und Ausschau nach Unterkünften hielten.
Lamartine würde es wohl noch eine Weile mit den Schwiegereltern aushalten müssen – zumal er befürchtete, daß Jeanne ihm eine
Trennung von den beiden Alten nicht verzeihen und vielleicht sogar das Kind gegen den Vater aufbringen würde, weil er die
Großeltern vergrault hatte. Dieser Gedanke erschrak Lamartine, er widmete sich schnell wieder seiner Zeitung.
Wieder fehlte ihm die Geduld für eine eingehende Lektüre. Er durchblätterte das Blatt bloß und überflog die Schlagzeilen.
Aber auf der dritten Seite fand er dann doch einen Artikel, der ihn interessierte. Während auf den ersten Seiten in wohlwollender
Form über die revolutionären Umtriebe in der Stadt berichtet worden war – eine Reportage beschäftigte sich sogar mit den technischen
Problemen des Barrikadenbaus – leistetesich die Redaktion von Lamartines Blatt hier eine kritische Note an die Kommune.
Der Kommentator unterstrich noch einmal die Sympathie seiner Zeitung mit der sich formierenden neuen Regierung des Volkes.
Er sprach sich für die Ziele der Kommune aus: für die grundlegende Veränderung der französischen Gesellschaft, bei der endlich
die Versäumnisse der bürgerlichen Revolution von vor nunmehr achtzig Jahren nachgeholt werden würden. Eine politische Gleichstellung
aller Franzosen sei überfällig, ja, allein eine Regierung des ganzen Volkes sei in der Lage, das durch Mißwirtschaft und Krieg
ruinierte Land zu retten. Erst wenn die Arbeiter und Kleinbürger ein gemäß ihrer Anzahl gewichtiges Wort würden mitreden dürfen,
sei die Gefahr gebannt, daß einige wenige skrupellos ihre Ziele auf Kosten der Mehrheit der Bevölkerung verfolgten. Aus diesem
Grund sei eine proletarisch dominierte Regierung geradezu eine nationale Pflicht, und daß die Gegner der Kommune auch die
Gegner Frankreichs seien, zeigte sich ja in ihrer Bereitschaft, sich mit dem ärgsten Feind, nämlich mit den Deutschen, zu
verbünden, um durch deren Schwerter die Revolution der Franzosen niederschlagen zu lassen. Das bezeichnete der Kommentator
offen als Verrat.
Dann warnte er die bürgerliche Regierung des Adolphe Thiers eindringlich davor, das Volk von Paris entwaffnen zu wollen oder
die ihm zur Seite stehende Nationalgarde per Dekret auszuschalten. Das hätte schlimmste Ausschreitungen der tödlich beleidigten
Bevölkerung zur Folge. Ebenso würde die Bevölkerung der Stadt ein bewaffnetes Vorgehen der Regierung gegen die Kommune als
einen Affront gegen ihre demokratischen Rechte ansehen und sich mit den Aufständischen auf den Barrikaden solidarisieren.
Kein Franzose werde dann mehr zur Regierung Thiers stehen, denn selbst eine gewählte Regierung hätte, wenn sie Franzosen zwinge,
das Gewehr auf andere Franzosen zu richten, keinerlei Legitimation mehr und sei sozusagen vogelfrei.
Bei aller Solidarität mit der Kommune und den sie unterstützenden Bürgern sah sich der Kommentator allerdings gezwungen,
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