Stieber - Der Spion des Kanzlers Roman
nehme
an, daß sich die Politische Polizei schon lange mit ihr beschäftigt. Als sie Lecoqs Leuten zu gefährlich geworden war, beschloß
man, sie loszuwerden. Wenn man ihr einen politischen Prozeß machen oder sie einfach ermorden würde, dann hätte die Kommune
ihre erste Märtyrerin und es würden wahrscheinlich noch mehr Pariser zu den Aufständischen überlaufen. Also konstruierte man
eine Anklage, die die Frau auch in den Augen ihrer Anhänger diskreditierte – einen Kindsmord. Darauf steht die Todesstrafe.
Man wäre die Suétens losgeworden und hätte ihre Anhängerschaft erheblich verunsichert. Um den Fall Suétens auf diese elegante
Weise zu lösen und vielleicht auch um in Zukunft eine Möglichkeit zu haben, sich unliebsamer Personen auf scheinbar legale
Weise zu entledigen, hat Lecoq Danquart in unsere Abteilung eingeschleust. Wir sollen die Drecksarbeit für die Politische
Polizeimachen – mit fingierten Mordanklagen gegen Oppositionelle.«
Lamartine wußte, daß er den Direktor damit auf seiner Seite hatte: Sein Vorgesetzter war ein zutiefst mißtrauischer Mensch,
wenn es um Politik ging. Nichts verunsicherte ihn mehr als Fälle mit politischen Hintergründen, die er nicht durchschaute.
Er lebte seit Jahren in der Angst, eine politische Intrige könnte ihn zu Fall bringen. Eigenartigerweise schien er nie auf
den Gedanken gekommen zu sein, daß er seinen Posten aufgrund fachlicher Inkompetenz oder aufgrund seiner Vorliebe für zwölfjährige
Strichmädchen verlieren könnte.
Der Direktor bebte, er wandte sich an Danquart: »Was sagen Sie dazu?«
Danquarts Mund öffnete sich und schloß sich wieder, aber er ließ nichts vernehmen.
»Sie sind ab sofort vom Dienst suspendiert!« schrie der Direktor ihn an. »Ich werde mich beim Polizeipräsidenten und beim
Innenminister über Ihren Chef, diesen Lecoq, beschweren. Ja, ich werde dafür sorgen, daß dieser Verbrecher aus seinem Amt
gejagt wird!«
Als der Polizeidirektor das Zimmer Lamartines verließ, schlug er die Tür hinter sich zu. Der Inspektor beobachtete Danquart,
der wie ein gescholtener Schüler wirkte.
»Sie haben heimlich gegen mich ermittelt?« maulte er.
Lamartine schwieg. Danquart verzog sein Gesicht vor Abscheu und zischte: »Das kostet Sie Ihren Kopf! Lecoq wird sich rächen.
Ich werde mich rächen!« Dann rannte er hinaus.
Lamartine war seit langer Zeit wieder einmal zufrieden mit sich. Er beschloß, am Abend früher nach Hause zu gehen und endlich
wieder einmal mit Jeanne zu schlafen.
Der Inspektor begab sich zum Kriegsministerium.
Mit den Beamten dort hatte er ungern zu tun. Wie herablassend das Kriegsministerium sich anderen Behörden gegenüber aufführte,
hatte Lamartine erst kürzlich bei Ermittlungengegen zwei Soldaten erfahren. Ein Sous-Lieutenant und sein Kamerad hatten während der Belagerung an der Peripherie der Stadt
ein Bauernmädchen aus der Île-de-France erschlagen und die Tat den Deutschen in die Schuhe geschoben. Lamartine konnte damals
nachweisen, daß sich keine deutschen Verbände in der fraglichen Gegend aufgehalten hatten und daß es den preußischen Soldaten
wegen der herumstreifenden Partisanen strengstens verboten war, sich von der Truppe zu entfernen. Die Täter waren auch noch
so dumm gewesen, Teile ihres Unterzeugs bei der Toten zurückzulassen, womit Lamartine sie schnell der grausamen Tat überführte.
Dann allerdings waren Angehörige des Kriegsministeriums auf den Plan getreten, hatten Lamartines Ermittlungsergebnisse in
Zweifel gezogen und ihrerseits Beweise angekündigt, die den Mord deutschen Marodeuren anlasteten. Sie schreckten auch nicht
davor zurück, Lamartine geheimer Sympathien für die Besatzungstruppen zu verdächtigen und seine Ermittlungen als eine Kampagne
gegen Frankreich zu diffamieren. Nur die Tatsache, daß der Kriminaldirektor aus Angst vor politischem Schaden für sein Haus
den Streit schlichtete und die Beamten des Kriegsministeriums die angekündigten Beweise schuldig blieben, hatte Lamartines
Kopf gerettet. Als dann auch noch einer der beiden verdächtigten Soldaten im Suff eine Prostituierte halb tot schlug und ihn
zivile, französische Zeugen schwer belasteten, gab das Kriegsministerium nach und ließ Lamartines Ermittlungen gelten. Die
beiden wurden unehrenhaft aus der Armee entlassen und zu einer hohen Gefängnisstrafe verurteilt.
An diese Affäre dachte Lamartine, als er das schwerbewachte Gebäude vom
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