Stieber - Der Spion des Kanzlers Roman
Polizeidirektor am Ende. Er schaute unsicher zu Danquart hinüber, der angesichts der Ratlosigkeit des zu Hilfe
gerufenen Chefs der Kriminalpolizei verlegen wurde und dem Blick des Alten auswich. Der Polizeidirektor machte einen Schritt
auf Lamartine zu. »Mann, warum verhindern Sie die Weitergabe der Ermittlungen an den Richter!? Wenn Sie sich in das Weibsbild
verguckt hätten, verstünde ich das noch ...« Lamartine dachte daran, daß der Polizeidirektor wegen seiner Affären mit minderjährigen Prostituierten berüchtigt war.
»Aber jetzt höre ich, es ist eine politische Angelegenheit. Sie wissen, daß ich so was nicht mag, Lamartine ...«
»Es ist erst einmal eine kriminalpolizeiliche Angelegenheit. Die Ermittlungsakte ist nicht zufriedenstellend.«
Der Direktor sah Danquart fragend an. »Ich habe Monsieur Lamartine angeboten, neue Zeugen beizubringen ...« erklärte Lamartines Mitarbeiter.
»Die Zeugen sind falsch!« erklärte Lamartine. »Die ganze Akte ist eine einzige Fälschung.«
»Unerhört!« polterte der Direktor, aber es war ihm anzumerken, daß er sich nicht so recht entscheiden konnte, was er unerhört
fand – die Fälschung der Akte oder der Vorwurf Lamartines, die Akte sei gefälscht.
Danquart geriet aus der Fassung. »Ich bin ein ehrbarer Beamter. So etwas muß ich mir nicht sagen lassen«, stotterte er.
Der Direktor schien nach einer Möglichkeit zu suchen, sich aus der Affäre zu ziehen, ohne eine Entscheidung treffen zu müssen.
Aber Lamartine nutzte die Gelegenheit. »Dürfte ich bitte erfahren, warum Danquart von der Politischen Polizei zu uns versetzt
worden ist?« fragte er den Direktor. Der schnaufte unwillig, aber er antwortete: »Weil er selbst um diese Versetzung gebeten
hatte. Dem Kollegen gefiel die Arbeit bei den Politischen nicht mehr – was ich, ehrlich gesagt, gut verstehen kann.«
»Welche Verbindungen pflegt Danquart noch zu seiner alten Abteilung?« fragte Lamartine weiter.
Der Direktor sah Danquart an. Danquart antwortete: »Keine. Von privaten Freundschaften abgesehen ...«
Lamartine nahm an seinem Schreibtisch Platz. Er öffnete mit dem Schlüssel, der mit einer dünnen Kette an seiner Weste befestigt
war, das Tresorfach und entnahm einen dunkelblauen Aktendeckel. Er legte die Akte auf den Tisch und öffnete sie.
»Das ist eine zweite Ermittlungsakte im Fall der Kindsmörderin Suétens ...« Lamartine schaute auf: Der Direktor sah genervt aus angesichts der immer komplizierter werdenden Sachlage; Danquart war
verblüfft.
»Meine beiden anderen Mitarbeiter haben sie auf meinen Befehl hin in aller Eile zusammengestellt. Sie enthält alle in der
Kürze der Zeit erreichbaren Erkenntnisse über das Zustandekommen der ersten Akte Suétens, die Sie, Herr Kriminaldirektor,
in der Hand halten.«
Der Direktor legte die Akte Danquarts so eilig auf Lamartines Schreibtisch, als könnte er sich daran verbrennen. Lamartine
lehnte sich zurück und referierte gelassen: »Einige gezielte Recherchen meiner Mitarbeiter ergaben folgendes: Die Zeugen,
die die Suétens belasten, wurden entweder unter Druck gesetzt oder bestochen. Sogar der Gatte der angeblichen Kindsmörderin
– wie wir feststellten: seit längerem von der Person verlassen – wurde erst in beträchtliche finanzielle Schwierigkeiten mit
Weinlieferanten seiner Spelunke gebracht und danndurch die Übernahme seiner Verpflichtungen dazu bewogen auszusagen, seine Gattin wäre von einem Fremden schwanger gewesen.
Die Clochards, die den Mord an dem Kind angeblich gesehen haben, hielten sich zur fraglichen Zeit entweder im Gefängnis oder
bei einer Sauferei am anderen Ende der Stadt auf. Nur die Gäste, die aussagten, sie hätten in der Schenke der Suétens kein
Kleinkind gesehen, sind echt. Ihre Aussagen entsprechen der Wahrheit, weil die Suétens wirklich kein Kind ausgetragen hat,
sie war nicht einmal schwanger, wie einer der falschen Zeugen behauptete ...«
»Wer soll das alles bewerkstelligt haben?« brachte der Direktor entsetzt hervor.
»Danquart und sein ehemaliger Chef Lecoq, für den unser neuer Mitarbeiter immer noch arbeitet.«
»Verleumdung!« schrie Danquart.
Lamartine stellte befriedigt fest, daß Danquart zum ersten Mal schrie, seit er in seiner Abteilung arbeitete.
»Warum sollte er das getan haben?« fragte der Direktor.
»Die Suétens gehört zu den Frauen, die in der Kommune großen Einfluß haben, sie ist eine Feindin der Regierung. Ich
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