Stieber - Der Spion des Kanzlers Roman
großen Gong.Er schlug den Gong mit einem durch rote Wolle gedämpften Klöppel. Augenblicklich nahmen die Herrschaften Platz. Die Livrierten
trugen dampfende Schüsseln auf, der Alte schenkte Wein ein.
Lamartine trank seinen Aperitif in einem Schluck aus und wollte sich erheben, aber Lecoq, der darauf gefaßt zu sein schien,
legte seine Hand auf Lamartines Unterarm. »So bleiben Sie doch, Lamartine! Sie sind eingeladen!«
»Von wem?«
»Von mir. Von der Politischen Polizei, die sich nichts sehnlicher wünscht als eine fruchtbare Zusammenarbeit mit Ihnen!« Lecoq
prostete dem Inspektor zu. Der Alte brachte ungefragt ein Glas für Lamartine und schenkte schweren Bordeaux ein. Lamartine
war so höflich, auch Lecoq zuzuprosten. Dann wurde eine Schüssel vor den beiden Polizisten abgestellt. Der Kellner hob den
Deckel – das Fleisch war dunkel, mager und so heiß, daß der Dampf bis zur niedrigen Decke des Restaurants hochschoß. Lamartine
stieg der würzige Duft in die Nase. Wenn Jeanne dabei wäre, könnte sie sich einmal gründlich mit Fleisch satt essen, dachte
er, davon hätte das Kind mehr als von den Schweinemägen der Schwiegermutter.
Dann fiel Lamartine der Burchell-Esel ein. Er gab dem Alten einen Wink, der sofort bei ihm war. »Woher kommt das Fleisch?«
fragte der Inspektor. Der Alte sah Lecoq an, der bedeutete ihm mit einer wedelnden Bewegung seiner Rechten, daß er verschwinden
könne, weil er die Frage des Gastes beantworten würde. Lecoq nahm eine lange Gabel und ein Tranchiermesser vom Tablett und
schnitt ein knorpel- und fettloses Stück von dem Fleisch ab, ließ es abtropfen und tat es Lamartine auf. Dann schnitt er sich
ein kleineres Stück ab und griff wieder zum Glas, um seinem Gegenüber zuzuprosten.
Lamartine sah sich um. Die Gäste griffen bereits zu, sie nickten beim Kauen anerkennend, einige bestätigten sich mit vollen
Mündern gegenseitig den wunderbaren Geschmack des Fleisches. Allerdings schienen die angebotenen Menüs überallaus der gleichen Speise zu bestehen. Es gab keine Beilagen, keine Salate oder Gemüse.
Auch Lecoq aß, doch die Happen, die er etwas geziert mit der Gabel zum Mund führte, waren winzig klein. Er schloß die Augen
und schien den Geschmack des Fleisches zu genießen. Plötzlich wandte er sich an Lamartine: »Eine Delikatesse. Köstlich. Wirklich.
So greifen Sie doch zu! Es handelt sich um eine Lieferung von schlachtfrischem Fleisch aus der Normandie. Natürlich geheim.
An den Lebensmittelkontrolleuren und Rationierungskommissionen vorbei ...« Er zeigte mit der Gabel zu den übrigen Tischen hinüber und flüsterte: »Für diese Herrschaften. Man muß den besseren Kreisen
selbst in Notzeiten etwas bieten. Wenn ihnen der Anreiz, der Luxus, das Besondere so ganz und gar abgeht, verlieren sie schnell
die Lust an der Wahrnehmung ihrer Standesrechte und -pflichten. Auch dafür ist eine moderne Politische Polizei verantwortlich ... So essen Sie doch endlich, Lamartine, und tun Sie um Gottes willen nicht so, als warte Ihre Gattin mit einem Côte de bœuf
zu Hause auf Sie! Selbst ich esse mich hier schamlos satt ...«
Das Fleisch ließ sich wie Butter schneiden. Der Duft war betörend. Auch Lamartine schloß die Augen, während er aß. Der Inspektor,
der seit Wochen außer Schwarten und Mägen kein Fleisch bekommen hatte, konzentrierte sich auf den Geschmack – da waren weite
Wiesen der Normandie, Heu in warmen Ställen, große Maiskolben in einem Kober, selbst frische Kleeblätter schien er durchzuschmecken.
Vor allem aber war da der betörende Saft muskulösen Fleisches, die Mischung aus Salz und Blut. Lamartine schwelgte. Er zwang
sich dazu, langsam zu essen, um den Genuß so weit wie möglich auszukosten.
»Es ist genug da«, sagte Lecoq und lächelte ihm aufmunternd zu.
Erst jetzt fiel Lamartine auf, daß Danquart immer noch hinter Lecoqs Stuhl stand. Aber es störte ihn nicht, ja, er fand es
richtig, daß sein Mitarbeiter nichts von dem wunderbarenEssen abbekam; Danquart sollte ruhig zusehen, wie es sich die anderen gutgehen ließen.
Lecoq ließ neuen Wein kommen, der Alte erkundigte sich beim Nachschenken, wie es den beiden schmeckte. »Wie immer vorzüglich,
Maître!« jubelte Lecoq.
Lamartine nickte nur. Je mehr er von dem normannischen Fleisch aß, desto größer wurde seine Gier auf das Essen. Jetzt vermißte
er auch keine Beilagen mehr: Sie hätten den Genuß nur gestört. Lamartines Magen, ja
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