Stieber - Der Spion des Kanzlers Roman
Tür der Amtsstube und flüsterte Lamartine verschwörerisch zu: »Sie werden es nicht glauben, aber gerade
befindet sich ein Herr in der gleichen Angelegenheit in meinem Vorzimmer. Ich darf ihn nicht lange warten lassen. Er ist auch
ein Polizist. Allerdings ein deutscher ...« Lamartine hatte mit allem gerechnet, aber nicht damit, einen deutschen Polizisten im Kriegsministerium zu treffen. »Ich
kenne ihn schon länger, ein interessanter Mann«, fuhr de Baule fort. »Man kann an ihm die Talente studieren, die den Deutschen
zum Sieg verholfen haben. Es sind die Talente, die darüber entscheiden werden, wer im nächsten Jahrhundert die Welt beherrscht.«
Lamartine verstand de Baule nicht, vor allem verstand er die Begeisterung des stellvertretenden französischen Kriegsministers
für einen deutschen Polizisten nicht. Auch wunderte es Lamartine, daß de Baule genau zu wissen schien, in welcher Angelegenheit
er unterwegs war.
De Baules Büro war ein Saal mit drei Spiegeln, mit einem für den kleinen Mann viel zu großen Schreibtisch und mit roten Samtvorhängen
und -kordeln an den meterhohen Fenstern. Immerhin fiel etwas Tageslicht herein. Der stellvertretende Kriegsminister wies dem
Besucher einen Stuhl in der Ecke zu. »Es fehlt die Zeit für weitere Erklärungen, werter Monsieur Lamartine. Einen Mann wie
der, mit dem wir es nun zu tun bekommen, läßt man besser nicht warten. Sperren Sie Augen und Ohren auf, Inspektor! Nun gibt
es viel zu lernen. Und vielleicht kommen Sie in Ihrem Fall einen kleinen Schritt weiter. Oder noch besser: Vielleicht werden
Sie nach diesem Gespräch eine weise Entscheidung treffen. Nämlich die, Ihre Ermittlungen einzustellen ...«
Ohne Lamartines Entgegnung abzuwarten, läutete de Baule eine Tischglocke. Augenblicklich öffnete sich eine Flügeltür an der
Stirnseite und ein junger Mann in einem eleganten, schwarzen Frack trat ein, dessen Haare in der Art der Jakobiner zu einem
Zopf gebunden waren. »Ich lasse bitten!« sagte de Baule laut. Lamartine beobachtete ihn genau, der ehemalige Militärattaché
war nervös geworden.
Der Sekretär verschwand. Lange geschah nichts. Dann hörte man draußen Schritte. Es schien Lamartine, als käme jemand von sehr
weit her. Sein Gang war nicht träge, aber müde. Er ging nicht schnell, aber auch nicht langsam oder bedächtig. Der Mann blieb
draußen kurz stehen und räusperte sich, bevor er eintrat. Lamartine war etwas enttäuscht: Nach de Baules Nervosität zu urteilen,
hätte eine imposante Erscheinung durch die Flügeltür in den Saal treten müssen. Aber der Deutsche, den der stellvertretende
Kriegsminister so aufwendig angekündigt hatte, sah aus wie ein kleiner Kanzleibeamter. SeineKleidung war einfach und in einem dunklen Grauton gehalten, so daß man sie Tag für Tag tragen konnte. Es war die Kleidung
eines auf Sauberkeit bedachten und um Unauffälligkeit bemühten Beamten.
Der Mann mochte etwa fünfzig Jahre alt sein, er war klein und drahtig, er hatte eine Halbglatze und trug die schwarzen, mit
grauen Strähnen durchsetzten Haare halblang und streng nach hinten gekämmt. Sein Oberlippenbart war buschig, aber längst nicht
so wuchernd, wie die Franzosen es mochten. Trotz des feingeschnittenen, fast sensiblen Gesichtes hatte der Mann eine robuste
Nase. Lamartine vermutete, daß das Nasenbein einmal gebrochen war, obwohl das bei einem Verwaltungsmenschen – und ein solcher
war der Besucher zweifellos – unwahrscheinlich war. Die Augen des Mannes waren winzig und lebhaft. Er legte offenbar Wert
darauf, sie hinter einer Brille mit ovalen Gläsern zu verstecken. Lamartine hatte den Eindruck, daß der Mann leicht schielte,
aber dieser Eindruck konnte auch durch die unruhigen Augen entstanden sein.
Der Besucher wartete, die Hände gefaltet, bis der Sekretär de Baules die Flügeltür wieder geschlossen hatte. Erst dann verbeugte
er sich tiefer, als es die Umgangsformen im Ministerium und der Rang des stellvertretenden Kriegsministers erforderten, und
verharrte. Der Mann schien Etiketten gewohnt zu sein, wie sie an großen europäischen Königshöfen noch üblich waren – aber
längst nicht mehr in Frankreich. Er zeigte die zugleich verlegene, aber bisweilen auch lustvolle Unterwürfigkeit von Bürgerlichen,
die aus dienstlichen Gründen gezwungen sind, mit dem Hochadel zu verkehren.
De Baule warf Lamartine einen hämischen Blick zu. Erst dann sagte er laut: »Bitte,
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