Stieber - Der Spion des Kanzlers Roman
Kriminalist, der sich durch nichts von seinem Weg abbringen ließ. Für Lamartine
war das Zusammentreffen mit dem deutschen Polizisten wie der Entsatz nach einer langen und harten Belagerung: Alle die Danquarts,
Lecoqs und de Baules konnten ihm nichts mehr anhaben. Mit diesem Mann an seiner Seite würde er unangefochten seine Arbeit
tun können. Er würde den oder die Mörder des Toten aus dem Bois de Boulogne finden und vor Gericht bringen. Alles weitere
sollte dann der Richter entscheiden – aber einen unaufgeklärten Mord würde es in Lamartines Abteilung auch in diesen schweren
Zeiten nicht geben ...
Dann allerdings fiel ihm ein, daß man ihn der Kollaboration beschuldigen könnte. Doch er sagte sich, daß jedem vernünftigen
Menschen der Unterschied zwischen ihm und einem Gaston Franc klar sein mußte. Er verriet niemanden, er tat nur das, was seine
Pflicht war: Er ermittelte einen Mörder. Und welche Behörde in der Stadt arbeitete derzeit nicht eng mit den deutschen Stellen
zusammen? Sogar das Kriegsministerium schien in regem Kontakt mit ihnen zu stehen, wie der Besuch des deutschen Polizisten
bei de Baule zeigte.
Der Deutsche hängte sich bei Lamartine ein und führte ihn an den Uniformierten, die so taten, als nähmen sie die beiden nicht
wahr, vorbei ins Freie. Als er die frische Luft atmete und die Beklemmung des Kriegsministeriums nicht mehr auf seinem Brustkorb
spürte, blieb Lamartine stehen, machte sich losund erklärte seinem Begleiter: »Ich weiß übrigens, wer das Restaurant in Wirklichkeit führt. Es ist gut möglich, daß dieser
Mann etwas mit der Ermordung des Gaston Franc zu tun hat. Er heißt Lecoq ...«
Sein Gegenüber erstarrte. »Lecoq! Der Chef der Politischen Polizei?«
Lamartine nickte. »Er hat versucht, einen Mann bei mir einzuschleusen, um Mordanklagen gegen Oppositionelle erheben lassen
zu können.«
Der andere starrte den Inspektor an. »Fingierte Mordanklagen gegen Oppositionelle! Eine ungewöhnliche Idee ...« Er klopfte Lamartine auf die Schulter und sagte laut: »Ich bin Ihnen zu allergrößtem Dank verpflichtet. Ich glaube, Sie
haben den Mordfall schon aufgeklärt. Besuchen Sie mich doch! Wir sollten einige Dinge miteinander besprechen.«
Lamartine konnte sich denken, daß die Besatzer auf diese Art auch Kollaborateure anwarben. Er schwor sich, peinlich darauf
zu achten, daß der Deutsche von ihm nichts erfuhr, was über die Ermittlungen im Mordfall Franc hinausging. »Wie war der werte
Name?« fragte Lamartine.
Der Deutsche schien überrascht zu sein; offensichtlich hatte er angenommen, daß de Baule Lamartine über seine Identität informiert
hatte. »Stieber«, antwortete er knapp. »Wilhelm Stieber aus Berlin.«
Zum ersten Mal seit dem Mord im Bois de Boulogne war Lamartine pünktlich zu Hause. Offensichtlich hatte niemand mit ihm zum
Abendessen gerechnet. Es waren nur drei Gedecke aufgelegt. Als Lamartine ins Zimmer trat, erhob sich die Schwiegermutter ächzend,
um ein viertes Gedeck zu holen.
Lamartine war bester Laune. »So bleib doch sitzen, Mutter!« sagte er und ging selbst zur Vitrine. Jeanne, die sich über Lamartines
Rücksicht auf die Schwiegermutter freute, ließ es sich trotz ihres schon hinderlichen Bauches nicht nehmen, Lamartine von
der vor Fett triefenden Ratatouille auf den Teller zuschöpfen. Lamartine bedankte sich und legte dabei die Hand auf den Unterarm seiner Frau. Die Schwiegereltern wechselten bedeutungsvolle
Blicke, und Lamartine fühlte sich wie ein Verehrer beim ersten Besuch im Elternhaus der Angebeteten.
»Laß es dir schmecken!« wünschte ihm Jeanne, faltete aber sogleich beide Hände unter ihren Bauch, verdrehte die Augen, als
käme gerade eine Wehe über sie, und ließ sich auf den Stuhl zurücksinken.
»Gott, Kind!« schrie die Mutter auf.
»Schon gut«, erklärte Jeanne. »Bloß eine Blähung.«
Lamartine schnupperte an der Ratatouille der Schwiegermutter. Sie roch nach Kräutern – die waren auf den Schwarzmärkten der
Peripherie wieder zu haben – und nach etwas Schwerem, Süßlichem, Zartbitterem.
»Ist da Fleisch drin?« fragte Lamartine.
»Hast du schon mal eine echte Ratatouille mit Fleisch gesehen?« entgegnete die Schwiegermutter.
Lamartine aß zufrieden, er schmeckte zerkochte Kartoffeln und Rüben, mit einem Stück Weißbrot tunkte er die salzige, graue
Soße auf.
»Schmeckt es dir, mein Sohn?« wollte die Schwiegermutter wissen.
Lamartine
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