Stieber - Der Spion des Kanzlers Roman
antwortete mit vollem Mund: »Danke. Es ist ausgezeichnet. Und Fleisch mag ich mein ganzes Leben lang nicht mehr
essen.«
Die Alten sahen sich groß an, Jeanne grinste etwas dümmlich. »Warum nicht?« fragte der Schwiegervater vorsichtig.
»Wegen der Tiere«, antwortete Lamartine.
»Wegen welcher Tiere?« wollte der Schwiegervater wissen.
»Wegen der Tiere, die geschlachtet werden, damit wir Fleisch essen können.«
Die Schwiegermutter machte ihrem Gatten aufgeregt Zeichen, die ihm bedeuteten, Lamartine sei nicht ernst zu nehmen. Der Schwiegervater
fragte dennoch: »Gilt das auch für uns?Ich meine, bist du der Meinung, auch deine Familie sollte in Zukunft auf den Genuß tierischer Nahrung verzichten?«
Darüber hatte Lamartine noch nicht nachgedacht, er zuckte mit den Achseln, dann sagte er: »Das solltet ihr selbst entscheiden.«
Die Schwiegermutter schüttelte den Kopf und flüsterte: »Das arme Enkelkind, sein Knochenbau wird sich nicht richtig entwickeln,
und die Nährstoffe fürs Hirn werden ihm fehlen. Nur weil sein Vater den Schweinen das Leben retten will ...«
Jeanne fragte Lamartine so laut, daß ihre Eltern sich sofort wieder stumm dem Essen widmeten: »Hattest du Ärger im Büro?«
Lamartine nahm sich noch einen Löffel von der Ratatouille. Dann wandte er sich freundlich an seine Gattin und erklärte ihr,
er habe ausnahmsweise keinerlei Ärger im Präsidium gehabt, ja, er habe sogar das Gefühl, daß sich in Zukunft einiges zum Besseren
wenden würde.
»Wirst du etwa befördert?« überfiel ihn die Schwiegermutter.
»Vielleicht sogar das«, antwortete Lamartine nach kurzem Nachdenken. »Auf jeden Fall wird sich meine Arbeit erleichtern. Ich
habe heute Kontakt zu einem interessanten Herrn bekommen, mit dem ich zusammenarbeiten werde ...«
»Um wen handelt es sich?« fragte Jeanne und gähnte dabei verstohlen.
»Um einen Kollegen namens Stieber.«
»Das klingt ja sehr nach Lothringen, ein alter Bekannter aus deiner Heimat?« fragte der Schwiegervater.
»Er kommt aus Berlin.«
»Ein Deutscher«, wunderte sich Jeanne. »Was hat ein Deutscher bei der Pariser Polizei zu tun?«
»Nichts. Er ist – soweit ich weiß – Chef der deutschen Feldgendarmerie.«
Die drei sahen ihn stumm an. Jeanne sprach als erste wieder,sie klang ernsthaft besorgt. »Und du meinst, du tust nichts Verbotenes? Nichts, was uns in einen schlechten Ruf bringt?«
»Wie kommst du denn darauf, Liebes?« fragte Lamartine.
»Wie sie darauf kommt?« fuhr die Schwiegermutter ihn an. »Das fragst du auch noch. Diese Barbaren haben uns belagert und beschossen.
Sie haben bei Sedan unsere Armee aufgerieben und unseren Kaiser gedemütigt. Und du fragst, wie die arme Jeanne darauf kommt?
Ich will es dir sagen: Sie kommt darauf, weil sie kein Kind zur Welt bringen will, dem die Nachbarn auf der Straße Steine
hinterherwerfen!«
»Mutter, bitte!« zischte Jeanne. Lamartine merkte ihr an, daß sie den Tränen nahe war. Er legte sein Besteck neben den Teller
und erklärte gelassen: »Ich weiß wirklich nicht, was ihr habt. Dieser Stieber ist ein Kriminalist wie ich auch. Er wird mir
helfen, einen Fall aufzuklären, der mich sehr beschäftigt. Ein ehemaliger Partisan ist vergiftet worden. Wahrscheinlich von
seinen Kumpanen ...«
»Bestimmt weil er sie verraten hat!« schrie die Schwiegermutter auf. »Du hilfst den Deutschen, unsere Leute zur Strecke zu
bringen.« Sie sprang auf und stieß ihren Gatten an. Der schlang schnell noch die letzten Bissen herunter und erhob sich dann
ebenfalls. »Wir werden in Zukunft das Essen in unserem Zimmer einnehmen. Mit einem Kollaborateur sitzen wir nicht an einem
Tisch!« erklärte die Alte wütend.
»Mama!« schrie Jeanne auf und schlug die Hände vors Gesicht.
»Wenn du außer dem Samen von diesem Menschen auch noch einen Funken Ehre im Leib hast, so folgst du uns!« fuhr die Schwiegermutter
ihre Tochter an. Dann verließ sie – gefolgt von ihrem Mann – das Zimmer. Jeanne weinte.
»Ich weiß wirklich nicht, was die Alte hat«, maulte Lamartine. Er wollte seine Frau in den Arm nehmen, aber eine innere Stimme
sagte ihm, daß er sie damit nur noch mehr aufregen würde, und so ließ er es.
»Das kannst du uns nicht antun!« stammelte Lamartines Gattin, als sie sich etwas gefangen hatte. »Versprich, daß du nie mehr
ein Wort mit diesem Deutschen reden wirst! Versprich es mir im Namen unseres Kindes! Versprich es!«
Lamartine hatte seine Jeanne
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