Stieber - Der Spion des Kanzlers Roman
und meine Leute mißtrauisch. Ich kann so gut wie nichts in die Wege leiten,
ohne daß er Wind davon bekommt. Sie aber sind ein französischer Polizist und mit der Aufklärung eines Mordfalles beschäftigt.
Sie wird niemand verdächtigen, Agenten in die Organisation einschleusen zu wollen ...«
»Da wäre ich mir nicht sicher. Lecoq hat mich bereits gewarnt. Ich bin ihm ein Dorn im Auge.«
»Monsieur Lamartine, Sie wollen den Mörder von Franc fangen. Das werden Sie ohne meine Hilfe nicht können, denn ihre eigenen
Leute werden Ihnen Knüppel in den Weg werfen,wo es nur geht ...« Stieber kniff seine kleinen Augen zusammen: »Tun wir uns zusammen, und ich garantiere Ihnen, in wenigen Tagen haben wir
Ihren Mörder! Im Interesse Ihres Landes!«
Lamartine überlegte. Die letzten Tage hatten sein Weltbild gründlich verändert. Er war immer der Überzeugung gewesen, daß
es zwar in der Politik Unregelmäßigkeiten und Korruption gab, daß es aber bei der Justiz und der Polizei mit rechten Dingen
zuging. Schließlich hatte Frankreich Gesetze, an die sich die Beamten trotz aller Wirren der letzten Jahrzehnte hielten. Woran
sonst sollte man sich als Staatsbürger angesichts der aus den Gleisen geratenen Geschichte auch orientieren?
Nun aber hatte der pflichttreue Beamte Lamartine Menschen wie Lecoq und Danquart kennengelernt, Beamte, die das Recht beugten
und dabei von höchster Stelle auch noch unterstützt wurden. Ein de Baule würde keinen Finger rühren, um die Geheimpolizisten,
die sich in Lamartines Behörde eingeschlichen hatten, zur Strecke zu bringen. Menschen wie de Baule taten nur das, was ihnen
und ihrem Fortkommen nützte.
Lamartine fühlte sich allein gelassen. Der Staat, an den er glaubte und dem er diente, ließ es zu, daß himmelschreiendes Unrecht
geschah, ja, er schien so beschaffen zu sein, daß er das Unrecht sogar selbst hervorbrachte, denn die Verbrecher, mit denen
Lamartine neuerdings zu tun hatte, vertraten doch diesen Staat. Und in diesen Staat würde er sein Kind setzen.
Lamartine verlor den Boden unter den Füßen. Eine Anklage gegen Lecoq wegen des Mordes an Franc würde es aufgrund seiner bisherigen
Ermittlungsergebnisse nicht geben. Der Inspektor hatte seine Erfahrungen mit dem Kriegsministerium und der Politischen Polizei,
er wußte sehr gut, wie stark der Einfluß dieser Herren war. Selbst in der Anklagebehörde besaßen sie Möglichkeiten zur Intervention.
Sollte der Fall wider Erwarten ins Rollen kommen, dann aber kurz vor der Anklageerhebung von Lecoq und dem mächtigen de Baule
hintertriebenwerden, so würde man sich an ihm als dem Motor der Ermittlungen rächen. In einer solchen Situation würde ihn sein einfältiger
Kriminaldirektor nicht mehr retten können. Seine Karriere wäre beendet, er wäre verloren, seine Familie ruiniert.
Lamartine wußte mittlerweile, wie sich die Mächtigen unliebsamer Bürger entledigten: Danquart war sicher nicht der einzige
Scharfrichter, der in einer Amtsstube saß und auf Anweisung von einem Lecoq unschuldige Menschen mit fingierten Anklagen hinter
Gitter oder sogar auf die Guillotine brachte.
Der Inspektor sah jetzt klar: Entweder er gab die Ermittlungen auf und verwischte alle Spuren seiner bisherigen Arbeit, oder
er tat sich mit jemandem zusammen, der mächtiger und gerissener war als seine Feinde bei der Geheimpolizei. Wenn er an sein
ungeborenes Kind dachte, so spürte er einen starken Reflex, die Sache so schnell wie möglich fallenzulassen. Aber für diese
Lösung war er schon viel zu weit vorgedrungen; seine Widersacher hatten ihn längst als Störenfried ausgemacht, und sie brüteten
wahrscheinlich schon über Plänen, ihn unschädlich zu machen. Er mußte sich zur Wehr setzen, er mußte die Ermittlungen im Fall
des Ermordeten aus dem Bois de Boulogne zu Ende bringen und dafür sorgen, daß die Mörder verurteilt wurden. Dann waren er
und sein Kind sicher. Alles sprach für Stieber.
»Ich habe da zwei Mitarbeiter, die in dieser Sache bisher nur insgeheim tätig geworden sind. Außer Danquart – das ist der
Mann, den Lecoq in meinem Büro postiert hatte – kennt sie niemand. Danquart ist suspendiert. Die beiden sind unauffällig und
erfahren ...«
Stiebers Augen blitzten. Er nickte heftig. Lamartine ging hinaus, um zu sehen, ob Bouvet und Moulin, seine beiden älteren
Untergebenen, in ihrem Büro waren. Er fand Bouvet beim Frühstück – über einer in fettiges
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