Stieber - Der Spion des Kanzlers Roman
Gaston Franc endlich abgeschlossen war. Man würde vielleicht eine kleine Meldung über seine Arbeit in der Zeitung veröffentlichen,
und er würde die entsprechende Seite aufschlagen und das Blatt auf den Wohnzimmertisch legen. Die Schwiegereltern und seine
Gattin würden auf leisen Sohlen hereinkommen und verlegen die Hände hinterm Rücken reiben, während sie sich bei ihm entschuldigten.
Und danach würde Jeanne die Tür zur Kammer weit öffnen und ihn in dem weißen Nachthemd, das immer so gut roch, erwarten. Lamartine
wußte schon, was er sich dann von seiner Frau, deren Bauch immer runder und verlockender wurde, wünschte.
Der Inspektor staunte über Stiebers Vorarbeit. Als Präfekt von Versailles hatte der Polizist ein Register nach Berliner Muster
anlegen lassen. Die Liste der Einwohner, die den Besatzern als suspekt galten und von denen Übergriffe während der Krönung
des preußischen Königs zum deutschen Kaiser zu erwarten gewesen waren, wurde schon länger geführt als die Einwohnerkartei
im Pariser Hôtel de Ville. Stieber hatte einige Akten zur Auswahl mitgebracht. Die beiden Polizisten studierten sie eingehend,
bis sie endlich die für Bouvet passende Legende gefunden hatten.
Der Mann hieß Jean-François Grasse. Er hatte bis zum Einmarsch der Deutschen in einem Weiler bei Versailles gewohnt und in
seinem Laden kleineren Haushaltsbedarf für die Landbevölkerungverkauft. Bei der Einnahme der Stadt waren seine Frau und sein kleiner Sohn durch ein verirrtes Geschoß getötet worden, woraufhin
sich Grasse einer in den Wäldern um Versailles vagabundierenden Gruppe von Partisanen angeschlossen hatte. Die Gruppe hatte
mehrmals kleine Versorgungszüge der Deutschen überfallen, wurde dann in einen Hinterhalt gelockt und aufgerieben. Nur Grasse
entkam. Seither suchte ihn die deutsche Feldgendarmerie per Haftbefehl. Weil bei der Festnahme seiner Kameraden ein deutscher
Soldat zu Tode gekommen war, hatte der, der Grasse fand, das Recht, ja die Pflicht, ihn auf der Stelle zu töten.
Eine Woche vor dem Mord im Bois de Boulogne war Grasse einer deutschen Streife in die Hände gefallen, die ihn nur deshalb
nicht auf der Stelle erschossen hatte, weil er sich bei der Festnahme so dumm anstellte, daß die Soldaten Zweifel daran hegten,
ob dieses Häufchen Elend wirklich der per Haftbefehl gesuchte, gefährliche Partisan Jean-François Grasse war.
Lamartine überlegte, was er getan hätte, wenn er an Stelle von Grasse gewesen wäre und Jeanne und das Kind durch ein Geschoß
der Besatzer umgekommen wären. »Ich stimme dem Vorhaben nur unter einer Bedingung zu«, erklärte er Stieber. »Der wirkliche
Grasse muß begnadigt werden!«
»Wie stellen Sie sich das vor!« fuhr Stieber ihn an. »Ich bin ebenso wie Sie ein Beamter meines Staates. Glauben Sie wirklich,
es ist einem preußischen Beamten möglich, etwas gegen die Dienstvorschriften zu veranlassen? Nein, Monsieur, das können Sie
von mir nicht verlangen!«
Der Inspektor war enttäuscht. Er hatte sich die Begnadigung von Jean-François Grasse als einen besonderen Verdienst ausgemalt,
den man ihm später zugute halten würde: Niemand würde einen Franzosen, der den Vater eines von den Deutschen getöteten Kindes
vor der Hinrichtung bewahrt hatte, der Kollaboration beschuldigen.
Lamartine sah sich einerseits einer wirksamen Entlastungberaubt. Andererseits zeigte sich nun, daß Stieber nicht dazu in der Lage wäre, etwas Unrechtes zu tun. Lamartine war fast
schon dazu bereit, auf die Begnadigung von Grasse zu verzichten. Dann aber sagte Stieber, der lange geschwiegen hatte: »Ich
verstehe ja Ihre Motive, Monsieur Lamartine. Sie wollen mit etwas aufwarten können, das den ehrenwerten Charakter Ihrer Handlungsweise
zeigt. Aber Sie müssen auch mich verstehen: Ich bin nicht nur meinen Vorgesetzten, sondern auch meinem Gewissen verantwortlich,
und dieser Grasse war schließlich an der Ermordung eines deutschen Soldaten beteiligt ...«
»Sagen wir: Er war vor Ort, als der Soldat zu Tode kam. Aber alle seine Kameraden sind dabei von Ihren Landsleuten getötet
worden. Ist das nicht genug Sühne für den deutschen Soldaten?«
Stieber seufzte und zog seine Stirn in Falten. »Darüber haben wir beide nicht zu entscheiden, lieber Lamartine. Das ist Sache
eines ordentlichen Gerichts!«
»So lassen Sie Grasse vor ein ordentliches Gericht stellen und ihn nicht standrechtlich erschießen, was für einen
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