Stieber - Der Spion des Kanzlers Roman
Zivilisten,
der er ja nun ist, sowieso eine juristisch fragwürdige Bestrafung wäre.«
Stieber atmete schwer: »Nun gut. Ich lasse ihn nach Berlin bringen und dort vor ein ziviles Gericht stellen.«
»Keinesfalls«, widersprach Lamartine heftig. »Das würde meine Landsleute nur noch mehr aufbringen. Übergeben Sie Grasse der
französischen Gerichtsbarkeit!«
»Aber die wird ihn doch auf der Stelle freisprechen!« rief Stieber empört.
»Sagten Sie nicht eben, nicht wir, sondern der Staat hätte darüber zu entscheiden, was mit ihm zu passieren habe? Und Recht
ist Recht, Herr Stieber. Mein Staat ist nicht weniger gerecht als Ihrer.«
Lamartine hatte nicht ernstlich damit gerechnet – aber Stieber gab wirklich nach und versprach es. Bouvet konnte Jean-François
Grasse werden – genannt Renard, der Fuchs.
Stieber übernahm es selbst, den etwas maulfaulen Bouvet mit der Legende des Grasse vertraut zu machen. Lamartine wunderte
sich, daß die Geduld des Deutschen bei seinem sonst so unbeweglichen Untergebenen fruchtete. Bouvet schien sogar einen ungeahnten
Ehrgeiz zu entwickeln, und schon nach einer knappen Woche hatte Lamartine den Eindruck, daß sich der bis dahin ungelenke Mann
anders bewegte; Bouvet drückte sich auch geschickter aus, er zeigte insgesamt ein zupackenderes, ja ein dem Partisanen entsprechenderes,
unbeugsames Wesen.
Bouvet wurde losgeschickt. Er sollte sich in den Kneipen und Kaschemmen umtun, in denen sich die ehemaligen Partisanen und
die Soldaten der zerschlagenen Grande Armée trafen. Lamartines Bedenken, ein Partisan, der den wirklichen Grasse gekannt hatte,
könnte Bouvet über den Weg laufen und ihn als Spion entlarven, zerstreute Stieber: Er wies seinen französischen Kollegen darauf
hin, daß die kleinen Partisanengruppen beim Kampf um Versailles aufgrund der starken deutschen Präsenz keinen Kontakt untereinander
gehalten und mehr oder weniger eigenständig operiert hatten. Bei den Verhören festgenommener Partisanen hatte Stieber sogar
herausgefunden, daß sie sich untereinander nicht kannten, wenn sie verschiedenen Gruppen angehörten. Die von Innenminister
Gambetta durchgeführte Volksbewaffnung der Provinzler, die vielgerühmte
levée en masse
, habe zwar zu einigen kleinen Siegen geführt, sei aber militärisch gesehen eine viel zu unorganisierte und unkoordinierte
Aktion gewesen, die die straff geführten preußischen Truppen, als sie sich erst einmal auf die neue Situation eingestellt
hatten, im Nu zerschlagen hätten, erklärte Stieber stolz.
Gambettas Franctireur-Verbände seien ein psychologischer und politischer Erfolg gewesen, gestand der Deutsche dennoch zu.
Die gefangenen Franctireurs aber hätten auf ihn als obersten Verhörführer einen erbärmlichen Eindruck gemacht, es habe sich
um permanent unter Alkohol stehende Dilettanten gehandelt, die nicht ahnten, worauf sie sich eingelassenhatten. Es herrsche seit dem Ende der Kämpfe eine große Verwirrung unter den Veteranen, erklärte Stieber, jeder versuche,
seine eigene Haut zu retten, die Kameraden seien den Franctireurs gleichgültig, ja, die meisten wollten am liebsten von der
ganzen Angelegenheit nichts mehr wissen.
Lamartine war beruhigt, Bouvet drohte offenbar keine Gefahr. Die gemeinsame Aktion konnte beginnen.
Am Abend des übernächsten Tages trafen sich Lamartine und Stieber mit Bouvet. Sie hatten als Treffpunkt die Place du Tertre
gewählt. In der unterirdischen öffentlichen Toilette hielten sich bloß einige junge Männer auf, die Kontakt mit zahlungskräftigen
Herren suchten. Die beiden Polizisten in Zivil, die sich mit einem etwas heruntergekommenen Subjekt beschäftigten, fielen
niemandem auf.
Bouvet berichtete halblaut, daß er in einer der Kneipen, die er neuerdings frequentierte, von einem Stammgast angesprochen
worden war. Der Herr hatte sich nach seinen momentanen wirtschaftlichen Verhältnissen erkundigt, nachdem Bouvet ihm von den
abenteuerlichen Wochen und Monaten in den Wäldern um Versailles berichtet hatte. Bouvet hatte dem Gast erzählt, er könne sich
nirgends lange aufhalten, da er auf der Flucht vor den Deutschen sei, schließlich habe er einen Soldaten auf dem Gewissen.
Das hatte dem Fremden imponiert, und er hatte ihn für den nächsten Tag in ein Restaurant in der Rue Mouffetard bestellt, wo
er erst einmal unterkommen und eine Arbeit finden könnte.
Wenn er sich dort einfinde und sich eine Weile bei der Arbeit
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