Stieber - Der Spion des Kanzlers Roman
Zeitungspapier eingeschlagenen Makrele.
Die Wangen des Polizisten glänzten. Alssein Chef herantrat, kaute er schneller – so als könnte ihm Lamartine einen Bissen streitig machen.
»Würden Sie bitte hereinkommen? Ich habe einen Auftrag für Sie.« Bouvet hörte augenblicklich auf zu kauen und starrte seinen
Chef entsetzt an. Lamartine fürchtete plötzlich, sich mit Bouvet vor Stieber lächerlich zu machen. »Wo ist Moulin?« fragte
er.
»Krank. Seit gestern leidet er an schwerem Durchfall, er muß das Bett hüten, seine Frau pflegt ihn. Wenn er zur Arbeit kommen
würde, hätten wir hier ...«
»Schon gut!« unterbrach ihn Lamartine. »Wischen Sie sich das Gesicht ab und kommen Sie herein! Wir haben Besuch.«
Lamartine ging zu Stieber zurück. Der Deutsche sah aus, als hätte er angestrengt über etwas nachgedacht. »Es wird nicht lange
dauern«, begann Stieber. »Schließlich wissen wir, was wir suchen. Ihr Beamter muß nur Augen und Ohren offenhalten und genauestens
dokumentieren, wer wann in dem Restaurant aus und ein geht. In spätestens zwei, drei Tagen haben wir die gesamte Bande, wir
verhören sie zur Sache Franc – und Sie können Lecoq den Prozeß machen.«
»Aber das Restaurant ist ein konspirativer Ort«, warf Lamartine ein. »Wie sollte sich ein Außenstehender dort einführen?«
»Daran habe ich auch schon gedacht, lieber Kollege. Ich glaube, es wäre klug, Ihrem Mitarbeiter eine Legende zu verschaffen.«
Lamartine wurde mulmig zumute. Er fürchtete, daß weder Moulin noch Bouvet in der Lage sein würde, diesen Auftrag auszuführen,
schließlich waren sie keine Spione, sondern einfache Kriminalpolizisten, die es gewohnt waren, ihre Ermittlungen durch Laufarbeit
anstatt durch Spionage zu führen. Und noch etwas anderes beunruhigte Lamartine ...
»Monsieur Stieber, es muß gewährleistet sein, daß meinem Mitarbeiter kein Leid geschieht. Wenn die Leute um Lecoq die sind,
für die wir sie halten, schrecken sie auch nicht davor zurück, einen Kriminalbeamten zu ermorden.«
»Das werden sie sicher nicht – Ihr Kollege fahndet schließlich nur nach Francs Mörder. Falls sie ihn enttarnen, werden sie
lieber das Lokal wechseln als sich die ganze Pariser Polizei zum Feind zu machen!« beruhigte ihn Stieber.
Es wurde angeklopft und Bouvet trat ein. Lamartine war das schäbige Aussehen seines Untergebenen peinlich; dem Deutschen hätte
er gerne einen seriöser wirkenden Polizisten vorgeführt – so einen wie Danquart. Bouvets Rock war speckig, weil er sich ständig
die Hände daran rieb, seine schütteren Haare waren ungekämmt und strähnig, er sah aus, als wäre er gerade aus dem Bett gestiegen.
Die Schuhe waren schmutzig von der ständigen Herumrennerei, und die zerbeulte Hose des dicklichen, kleinen Mannes sah aus,
als hätte er tagelang in seinen Kleidern geschlafen.
Stieber musterte Bouvet. »Vorzüglich«, jubelte er nach einer Weile. »Genauso stelle ich mir einen französischen Partisanen
vor. Ich schlage vor, wir nennen ihn ›Renard‹ – den Fuchs von Versailles.«
»Sie wissen, daß ›Renard‹ auch eine andere Bedeutung hat«, warf Lamartine in seinem schweren, kantigen Deutsch ein, das er,
seit er in Paris wohnte, nicht mehr gesprochen hatte. Er wollte nicht, daß Bouvet etwas von seinen Bedenken mitbekam. »Es
bedeutet auch Streikbrecher – und Spion.«
»Eben«, antwortete Stieber ebenfalls auf deutsch. »Sie sprechen meine Sprache übrigens sehr gut.«
»Ich komme aus Lothringen, in meiner Familie wurde früher mehr Deutsch als Französisch gesprochen.«
Stieber sah ihn nachdenklich an, dann erklärte er: »Kein Mensch wird jemanden verdächtigen, den alle ›Spion‹ nennen. Und,
Lamartine, sehen Sie sich Ihren Kandidaten doch genauer an: Für einen alten Fuchs geht er gerade noch durch, aber als Spion
niemals.«
Die nächsten Tage hielt sich Stieber im Präsidium auf. Er kam morgens vor allen anderen durch eine Pforte in der Rückfront,
die sonst immer verschlossen war, und ging meistens erst nach Einbruch der Dunkelheit.
Lamartine saß bis spät abends mit ihm zusammen und plante Bouvets Vorgehen. Zu Hause war der Inspektor nur noch zum Schlafen
– obwohl er seine Kammer regelmäßig verschlossen fand, im Sessel übernachten mußte und von der Familie kaum jemanden zu Gesicht
bekam. Wenn er abends am Fenster saß und in die Dunkelheit starrte, dachte Lamartine oft daran, wie es sein würde, wenn der
Fall
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