Stieber - Der Spion des Kanzlers Roman
lieber Kollege, Berlin ist im Vergleich zu Ihrer Hauptstadt doch ein ziemlich ruhiges Pflaster, und selbst
als hochrangiger Polizeibeamter hat man es tagtäglich mit recht provinziellen Delikten zu tun.«
»Und dennoch haben Sie eine beachtliche Karriere gemacht ...« warf Lamartine ein.
»Ich hatte das unverschämte Glück, schon mit 26 Jahren in kurzer Zeit zwei spektakuläre Fälle zu lösen. Damit bin ich meinen Vorgesetzten, ja sogar der Öffentlichkeit aufgefallen.
Die Kollegen waren nicht schlechter als ich. Einige unter ihnen verfügten sogar über beträchtlich mehr Erfahrung. Ich hatte
nach einigen Verwirrungen Jura studiert und war übers Gericht als Referendar zur Kriminalpolizei gekommen. Es gelang mir ziemlich
schnell, alle Täter eines Kapitalverbrechens zu überführen, das im Hause eines Bankiers stattgefunden hatte. Eigentlich ein
Routinefall – aber einer, der durch sein nobles Opfer die Gemüter erhitzte. Ich glaube, jeder einigermaßen geübte Ermittler
hätte den Fall ebenso schnell aufklären können. Aber ich war der vom Schicksal Ausersehene.«
Lamartine hatte sehr aufmerksam zugehört. Er verglich Stiebers Werdegang mit seiner Karriere als Kriminalbeamter – und kam
zu dem Schluß, daß er weniger Glück als sein deutscher Kollege gehabt hatte. Was er erreicht hatte, hatte er sich durch harte
Arbeit, durch Fleiß und durch den Verzicht auf ein Privatleben erkämpfen müssen. Das Schicksal hatte ihn zu nichts ausersehen
– jedenfalls bisher nicht. »Einen Vorsprung gegenüber den Kollegen müssen Sie schon gehabt haben«, widersprach Lamartine trotzig.
»Sonst wären Ihnen keine spektakulären Fälle übertragen worden. Bekanntermaßen sichern sich die schönen Brocken doch unsere
Vorgesetzten.«
Stieber sah ihn nachdenklich an, dann fuhr er fort: »Wahrscheinlich hatte ich die Anfangserfolge allein meiner Unbefangenheit
zu verdanken. Ich war ein guter Handwerker – aber einer, der noch nicht weiß, welche Tücken in seiner Arbeit lauern. Glauben
Sie mir, mein Polizeialltag in Berlin wurdesehr schnell diffiziler. Da gab es zum Beispiel den Fall Tomaschek. Ein Berliner Schneidermeister hatte sich mit Hilfe eines
Arztes für tot erklären und scheinbar beerdigen lassen, um eine Versicherungssumme von 100 000 Talern einzustreichen. Mir kam durch einen kleinen ungarischen Ganoven zu Ohren, daß sich der Schneider in Böhmen aufhielt.
Ich ließ das Grab Tomascheks öffnen und fand im Sarg nur ein Bügeleisen und schwere Steine. Sofort reiste ich inkognito nach
Böhmen und stöberte den schwerreichen Versicherungsbetrüger dort auf.«
Was als ein Geplauder unter Polizei-Kollegen begonnen hatte, war in Angeberei umgeschlagen. Stieber schien nicht oft Gelegenheit
zu haben,über seine Arbeit zu sprechen; er genoß es offensichtlich sehr, einem sachkundigen Zuhörer ausführlich von seinen
Erfolgen zu berichten. Aber es war nicht allein die Renommiersucht eines Menschen, der sich für unterschätzt hielt. Stieber
schien Lamartine etwas vor Augen führen zu wollen: Auch wenn er das Gegenteil behauptete und beschaulich begonnen hatte, so
steigerte sich seine Fallsammlung. Sie schien vor allem den Zweck zu haben, dem Pariser Kollegen seine fachliche Überlegenheit
vorzuführen. Lamartine spürte, daß er eingeschüchtert werden sollte: Stieber wollte einen folgsamen Zuarbeiter, keinen gleichwertigen
Partner. »Ich war noch kein Jahr bei der Berliner Polizei und schon eine Legende. Sie wissen, wie das ist: Natürlich wollte
man sich meiner zu anderen als rein kriminalistischen Zwecken bedienen.«
»Sagten Sie nicht eben noch, Sie gehörten zu den Kriminalisten, die nichts von der Vereinnahmung der Polizei durch die Politik
halten?« protestierte Lamartine.
Stiebers Gesichtsausdruck verhärtete sich. »Der Staat hat das höchste Recht auf die Individuen. Deren oberste Pflicht ist
es, Bürger dieses Staates zu sein.«
»Was soll das heißen?«
»Es gibt Politik und Politik. Es gibt Leute, die kennen nur ihre Interessen. Sie tun alles, um diese Interessen zu verwirklichen.Damit schaden sie der Allgemeinheit. Aber das Wohl der Allgemeinheit ist das Maß aller Dinge.«
»Solche Gedanken sind mir nicht fremd, Herr Stieber«, stimmte Lamartine zu. »Wissen Sie, ich bin ein eifriger Leser. Früher
– also vor meiner Heirat – habe ich sogar unsere Philosophen gelesen. Die großen Enzyklopädisten zum Beispiel. Es war wie
eine
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