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Stieber - Der Spion des Kanzlers Roman

Titel: Stieber - Der Spion des Kanzlers Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Brenner
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anwesend, sondern auch der König von Preußen. Das Thema der Predigt lautete: ›Welche Strafen erwarten den Christen
     für die Sünde der Lüge?‹ Die Kirchenbesucher waren gerührt. Wilhelm hat mir jedes Detail des Gottesdienstes und der Predigt
     berichtet – auch daß der König eingenickt war   ...«
    Lamartine fiel in den Ton eines Verhörs: »Welcher Art war das Verhältnis zwischen Ihnen und Wilhelm Stieber?«
    Der Schwede antwortete ruhig und emotionslos: »Wilhelm Stieber interessierte sich für die Umstände meines Lebens. Er war immer
     an Menschen interessiert, er wollte wissen, wie sie dazu kamen, das zu tun, was sie taten. Und was meine besonderen Neigungen
     zum männlichen Geschlecht angeht, so waren sie für Stieber nur in einer Hinsicht von Belang: Nämlich inwiefern meine Veranlagung
     mein soziales Verhalten bestimmte   ... So hat Stieber es jedenfalls selbst ausgedrückt. Ich für meinen Teil habe ihn nie so ganz verstanden   ... Wilhelm Stieber ist ein Mensch, den niemand wirklich kennt. Die, die glauben, ihn zu kennen, täuschen sich!«
    »Was hat Stieber Ihnen von sich erzählt?«
    »Daß er 1818 in Merseburg geboren wurde. Sein VaterHypolith Stieber war erst subalterner Regierungsbeamter in Merseburg, dann Kircheninspektor in Berlin. Seine Mutter stammte
     – glaube ich – aus einer englischen Grundbesitzerfamilie und trug den Namen Daisy. Der Vater hatte die Mutter in der Nähe
     von Merseburg kennengelernt. Die Kutsche der Engländerin wurde von Räubern überfallen. Hypolith kam dazu und vertrieb die
     Räuber. Merseburg stand kopf, als die beiden sich vermählten   ...«
    »Was für eine romantische Geschichte!« spottete Lamartine. »Wie aus dem Liederbuch, ein Jammer, daß Sie dazu keine Musik haben.«
    »Ich weiß nicht, was Sie wollen: Stieber hat sie mir in diesen Worten erzählt!«
    »Er erzählt den Leuten viel. Ob alles stimmt, steht auf einem anderen Blatt.«
    Bjerregaard entgegnete ernst: »Vielleicht ist es wirklich besser, Sie gehen wieder!«
    Damit hatte Lamartine nicht gerechnet. Er gab Udo schnell die Münzen zurück. Bjerregaard verstand die Geste: Er nahm wieder
     auf dem Bett Platz und setzte seinen Bericht fort. »Zu der Zeit, als Stieber mir begegnete, herrschte eine eigentümliche Stimmung.
     Selbst die intelligenten und künstlerisch veranlagten Kommilitonen   ...« Wenn Bjerregaard die Studenten Kommilitonen nannte, klang er wie ein Hochstapler. »...   selbst die hellen Köpfe unter den Studenten verhielten sich plötzlich wie Provinzler. Sie wagten sich abends nicht mehr auf
     die Straße, sie mieden die Gasthäuser, sie hielten sich am liebsten zu Hause auf. Kleine Konzerte mit drei, höchstens vier
     Musikern waren sehr beliebt. Es wurde wenig geredet und viel musiziert. Man umgab sich mit Möbeln, die beruhigend und ausgleichend
     aufs Gemüt wirkten – Sesseln, Sofas, Tischchen mit geschwungenen Formen waren beliebt, einige Kommilitonen gaben ihr ganzes
     Geld für diesen Schnickschnack aus.«
    Lamartine räusperte sich ungeduldig. Bjerregaard hob die Stimme. »Wilhelm Stieber hatte dafür ebenso wenig übrig wieich, das können Sie mir glauben!« Bjerregaard schaute seinen Gast an, er wirkte jetzt entschlossener. »Meine Freunde und ich
     litten unter diesem Schlaf, der eigentlich schlimmer als ein Exil war – denn in einem Exil ist man zwar aus der Heimat verbannt,
     aber das Hirn ist nicht gelähmt, die Sinne sind nicht verkleistert   ...«
    »Kommen Sie zur Sache, Herr Bjerregaard!« drängte Lamartine.
    Bjerregaard sprach schneller. »Stieber war kein Aufrührer. Eigentlich machte er immer den Eindruck eines Menschen, der keinen
     Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Ordnung hegte – der preußischen Ordnung. Aber im Gegensatz zu denen, die das Preußentum
     verteidigen wollten, indem sie den Untertanen das Denken verbaten, wünschte sich Wilhelm Stieber einen Staat mit regen Menschen.
     Er sagte oft, in dem Mief, den die Zensoren verbreiteten, müßte er ersticken. Er wollte lernen, wollte andere Menschen kennenlernen,
     vor allem wollte er verstehen, warum jemand dieses und jenes tat. Er interessierte sich für die Gründe der Menschen – und
     damals gab es eben nur einen Grund, etwas zu tun oder zu lassen:die Angst vor der Strafe. Das war einem Wilhelm Stieber zu
     wenig.«
    »Schön«, sagte Lamartine. »Jetzt haben Sie Ihr Möglichstes getan, um Stieber in meinen Augen zu einem Ehrenmann zu machen.
     Aber dafür habe ich Sie nicht

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