Stieber - Der Spion des Kanzlers Roman
schien
in der Pedell-Loge ein Geräusch gehört zu haben. Der Schwede öffnete die Zimmertür einen winzigen Spalt und lugte hinaus.
Als er niemanden entdeckte, atmete er auf und nahm wieder Platz.
»Leider kann ich Ihnen nichts anbieten«, erklärte Bjerregaard.
»Wie haben Sie Stieber kennengelernt?« fragte Lamartine.
Der Schwede starrte eine Weile stumm vor sich hin. Dann fuhr er stockend fort. »Das muß Ende der dreißiger Jahre gewesen sein.«
Er räusperte sich, es klang wie bei einem Lungenkranken. »Der Dachdecker mißbrauchte mein Vertrauen. Er wollte mir keine Stelle
besorgen, sondern ließ mich die unangenehmen Arbeiten verrichten – ohne mir allerdings dafür etwas zu bezahlen. Er sorgte
bloß dafür, daß ich zu essen hatte und in seiner Nähe unterkam ...« Bjerregaard schaute Lamartine erwartungsvoll an. Lamartine nickte ihm zu – er sollte endlich zum Thema kommen. »Er schlug
mich jeden Abend, und er trank viel. Berlin war die erste große Stadt, in die wir kamen. Hier gelang es mir, in einen Hauseingang
zu schlüpfen. Er war mal wieder besoffen und bemerkte erst zwei Straßen weiter, daß ich nicht mehr bei ihm war. Ich hörte
sein Brüllen noch lange, aber er fing mich nicht wieder ein. Eine Zeitlang streunte ich herum. Dann griff mich mein Vater
auf ...«
»Ihr Vater?« fragte Lamartine erstaunt.
»Ich nannte ihn meinen Vater, weil er sich um mich kümmerte und mich nicht ausnutzte. Er war Pedell an der Berliner Universität
und wohnte in dieser Wohnung hier. Er nahm mich auf, weil er weder Frau noch Kinder hatte und sich allein fühlte. Konrad kleidete
mich ein und gab mir Nachhilfeunterricht in Deutsch. Als ich siebzehn war, setzte er durch, daß ichganz offiziell als sein Gehilfe eingestellt wurde. Und als er starb – das war vor zehn Jahren – wurde ich sein Nachfolger.
Alles, was ich geworden bin, habe ich Konrad zu verdanken. Er war vielleicht der beste Mensch, der mir jemals begegnet ist.«
Lamartine wurde immer ungeduldiger. »Was ist mit Stieber? Warum erzählen Sie mir das alles?«
Udo mischte sich gereizt ein: »Sie wollen doch die ganze Geschichte erfahren, oder? Wenn Sie nicht die ganze Geschichte kennen,
haben Sie Ihr Geld umsonst ausgegeben ...«
Lamartine sprang auf und fuhr den Strichjungen an: »Sofort geben Sie mir das Geld zurück! Ich hole die Polizei: Sie sind doch
beide Betrüger!«
Udo schaute ihn ungläubig an. Dann griff er in seine Jacke und zog den Lohn hervor, den Lamartine ihm gegeben hatte. Lamartine
riß ihm das Geld aus den Händen und stürzte zur Tür.
Bjerregaard sprang vom Bett auf und fuhr hastig fort: »Wilhelm Stieber hat an der Friedrich-Wilhelm-Universität Theologie
studiert. Wir begegneten uns im Innenhof. Ich war damals noch Gehilfe von Konrad und schleppte Kohlen vom Hof in den Keller.
Mein Gesicht war ganz schwarz. Stieber kam gerade aus einer Vorlesung. Als er mich sah, blieb er stehen und schaute mich ungeniert
an. Mir war das unangenehm, denn die Herren Studenten ...naja, irgendwie waren die doch etwas anderes ... etwas Besseres als unsereiner. Konrad hatte mir eingeschärft, sie nicht anzusprechen und sie nicht ... anzuglotzen.«
Lamartine kehrte um und nahm wieder Platz. Bjerregaard begann nun, durch das schmale Zimmer zu wandern, was seinen Redefluß
etwas beschleunigte. »Stieber fragte mich, ob mir niemand zur Hand ginge. Ich verneinte und wollte weiter. Er aber rief seine
Kommilitonen, die noch in der Hörsaaltür standen. Sie kamen neugierig näher. Stieber zeigte auf mich und erklärte, ich müsse
mich allein abrackern, damit sie es warm in den Seminarräumen hatten. Er fragte, ob mir keinerhelfen wollte. Doch die jungen Herren winkten ab und gingen davon. Stieber kramte aus seiner Westentasche eine Münze hervor
und gab sie mir. Bevor er seinen Kommilitonen folgte, lud er mich für den Abend in eine Studentenpinte ein. Dann ging er,
und ich schleppte die Kohlen in den Keller der Universität.«
»Sind Sie sicher, daß er Theologie studiert hat?« fragte Lamartine.
Bjerregaard antwortete schnell: »Wilhelm hat sich Mühe gegeben, seinen Vater wenigstens in dem Glauben zu lassen, er studiere
Theologie. Er schrieb bei den Kommilitonen Predigten ab und legte sie zu Hause so aus, daß sie dem Vater in die Hände fallen
mußten. Einmal hat er sogar für einen erkrankten Studienfreund eine Predigt in der Hofkirche gehalten. Nicht nur Wilhelms
Eltern waren
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