Stieber - Der Spion des Kanzlers Roman
oder durch ungesetzlich groben Umgang mit Verdächtigen, die noch nicht überführt waren.
Jetzt hatte Lamartine die Grenze zwischen seiner Welt und der der Verbrecher mit einem Fuß überschritten. Udo verlangte von
ihm, auch den anderen Fuß hinüberzusetzen und damit ganz und gar das Lager zu wechseln. Lamartine wußte, daß man das nur einmal
tat – daß es nach diesem Schritt kein Zurück mehr gab.
Die Stimmen auf der Treppe wurden unangenehm laut. »Nun mach schon die Tür auf!« fuhr Udo ihn an. Die Stimmen kamen näher.
Lamartine öffnete die Tür der Toilettenkabine und faßte Lecoq an den Unterschenkeln. Sie schleiften den Bewußtlosen hinein.
Im gleichen Augenblick betraten zwei Männer die Toilette. Udo zog Lamartine in die Kabine. Lecoq fiel auf den Toilettensitz,
sein Hinterkopf schlug hart gegen die Wand. Udo drückte Lamartine auf Lecoq, damit er die Tür schließen konnte. Er schloß
ab und legte den Zeigefinger der Rechten auf die Lippen.
Die Männer waren beim Eintreten in den Toilettenraum verstummt. Lamartine horchte gespannt, die Stille machte ihn noch nervöser.
Es dauerte, bis er wieder etwas hörte: ein schweres, anhaltendes Plätschern. Einer der beiden ächzte vor Behagen. Die beiden
Männer kicherten, als sie ihre Hosen schlossen.
Lamartine wartete darauf, daß sie in den Vorraum gingen und sich die Hände wuschen. Einer war schon fast draußen, als der
andere, der wohl vor dem Pissoir stehengeblieben war, ihn ansprach: »Sind da nicht eben zwei in einer Kabine verschwunden?«
Der Angesprochene zögerte, dann kam er zurück.
Udo und Lamartine sahen sich an. Udos Faust mit dem Schlagring hob sich, seine freie Hand verschwand in der Rocktasche und
hielt, als er sie wieder herauszog, Lecoqs Stilett. Udo drückte Lamartine die Waffe in die Hand. Der Polizist hielt das Messer
zwischen drei Fingern – so als wäre es schmutzig. Wenn er keine Angst vor dem Geräusch des auf den Kachelboden aufschlagenden
Messers gehabt hätte, hätte er es auf der Stelle fallen lassen.
Die Stimme des Mannes war jetzt dicht vor der Kabinentür zu hören. »Hier war es, hinter dieser Tür sind die beiden verschwunden!«
Es wurde dreimal hintereinander hart gegen die Tür geklopft.
»Laß sie doch!« sagte sein Kumpan.
Der andere polterte ein zweites Mal gegen die Tür. »Die Polizei müßte man holen!« schrie er.
Das Messer entglitt Lamartines Finger. Er wunderte sich, daß es beim Aufprall auf dem Boden kein Geräusch verursachte. Er
sah auf seine Füße. Da lag kein Messer. Dann blieb sein Blick an Lecoq hängen: Lecoqs weit aufgerissene Augen starrten ihn
an. Er erinnerte Lamartine an den versteinerten Blick des Gaston Franc, des Toten auf der Marmorbank im Bois de Boulogne.
Nur: Lecoq war nicht tot, er bewegte sich, sein Arm hob sich so langsam, als stemme er ein schweres Gewicht. In der Faust
hielt er das Stilett, die Klinge zeigte auf Udos Bauch.
Lamartine war gelähmt. Er wollte schreien, brachte aber nur ein Grunzen hervor. Udos Faust schoß hoch – und blieb in der Luft
hängen. Lamartine wußte, daß Lecoqs Stilett in Udos Körper eingedrungen war. Udo schluckte zweimal, dann schlug seine Faust
mit dem Schlagring auf Lecoqs Schädel. Wieder traf er die verletzte Stelle.
»Was treiben die Hinterlader da drinnen?!« schrie draußen einer. Der andere sagte: »Laß uns gehen und auf dem nächsten Revier
Meldung machen!«
Udos Faust hob sich wieder – diesmal schaffte sie es gerade auf Augenhöhe. Dann traf der nächste Schlag Lecoqs Kopf.
Draußen spuckte einer der beiden gegen die Tür. »Deutsche Männer, die so was tun, sollten kastriert werden!« Er ging wütend
davon. Der andere folgte ihm.
Udos Hand krallte sich in seinen Bauch, zwischen den Fingern quoll Blut hervor. Lamartine schloß die Tür auf und trat aus
der Kabine. »Ich hole einen Arzt!« erklärte er.
Udo schaute ihn verständnislos an.
»Du bist schwer verletzt! Ohne Arzt wirst du sterben.«
»Was glaubst du, wie oft sie mich schon gestochen haben! Und? Bin ich etwa tot? Los, schließ die Tür!«
Lamartine wußte, daß es keinen Sinn hatte zu widersprechen. Er zog die Tür der Kabine zu. Udo schloß von innen ab.Dann erschien sein Kopf über der Kabine. Sein Gesicht war schmerzverzerrt und weiß. Er streckte seine Hand aus. Lamartine
packte sie und zog. Als Udo sich auf der Kabinentür abstützte, schrie er vor Schmerz laut auf. Er verlor den Halt, und Lamartine
mußte den
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