Stieber - Der Spion des Kanzlers Roman
sojar
sehr!«
Lamartine sehnte sich nach Mia. Er sehnte sich so sehr nach ihr, daß er sogar die Alte ertrug. Er trank einen weiteren Schluck
von ihrer Brühe.
»Jut, wa?«
Er nickte schwach. Dann fragte die Alte leise: »Werden Se wieda nach Frankreich zurückjeh’n oda werden Se hierbleiben?«
»Ich weiß es noch nicht.«
»Können wir ’ne Abmachung treffen?«
»Welche Abmachung?«
»Ick brauch Mia. Ohne sie krieg ick den Jungen nich durch. Wenn se mit Ihnen nach Frankreich jeht, bin ick valor’n. Ick bin
’ne alte Frau – und in diesen Zeiten nimmt man off Alte und Jebrechliche keene Rücksicht nich.«
»Ich finde Sie abstoßend, Frau Wilke!«
»Warum? Weil ick von meener Kleenen lebe?«
»Weil Sie sie auf den Strich schicken.«
»Dat is nich die schlechteste Arbeet. Ick hab’s als junged Ding ooch jemacht – und ick hab Mia damit durchjebracht. Sie hat
nie einen Vater jehabt, der olle Wilke hat mich als ledije Mutter jeheiratet – und er is am Suff jestorben, bevor er überhaupt
was für mich und det Kind tun konnte.«
»Ich möchte nicht, daß Mia weiter anschafft.«
»Werden Se det Jeld vadienen, det w’r brauchen? Mia, der Kleene ... und icke.«
Lamartine antwortete nicht.
»Sehen Se, Sie jehen wieda in Ihre Heimat zurück. Sie woll’n doch zu Ihrer Familie, wa. Und ick bitte Sie nur darum, mir Mia
zu lassen. Vergnijen Se sich noch ’n paar Tage mit ihr! Tun Se auch wat, damit det Mädel sich wohl fühlt, sie is schon so
jung jealtert. Aber dann ziehen Se eenen Schlußstrich!«
»Warum sollte ich das tun?«
»Sie würden wat dafür bekommen.«
»Was?«
»Dat, wat Se sich am stärksten wünschen!«
»Was wissen Sie davon?«
»Ick weeß allet. Ick weeß, daß Se in Balin sind, um Ihre Unschuld zu beweisen.«
»Das hat sich Stieber ja fein ausgedacht!«
Jetzt schwieg die Alte. Lamartine spürte deutlich: Das Blatt hatte sich gewendet, seine Karten waren besser als vorher. Stieber
machte ihm über die Witwe ein Friedensangebot. Bisher hatte er nur gedroht, jetzt bat er um einen Ausgleich. Aber warum?
Lamartine wußte, daß er für Stiebers politisches Fortkommen im neuen Deutschland unerheblich war. Stieber hatte mächtige Freunde
und Gönner, er war in Berlin nicht auf die Hilfe eines Franzosen angewiesen. Was also konnte Stieber von ihm wollen? Lamartine
war ein Fremder, ein unliebsamer Ausländer, jemand, der sich im stolzen, neuen Berlin auf dünnem Eis bewegte.
»Herr Stieber möchte Se sehen!« sagte die Witwe.
»Bringen Sie mich zu ihm!«
Die Witwe zog einen Mantel über ihre Schürze. Sie verließen eilig zusammen die Wohnung.
Als Lamartine bemerkte, daß die Passanten sich nach ihnen umsahen, hielt er etwas Abstand zu der Alten.
Sie gingen in Richtung Osten, das wußte Lamartine.
Was hatten sie mit Jeanne gemacht? Hatte Lecoq ihr gedroht? Hatte er ihr etwas versprochen? Wahrscheinlich hatte die Geheimpolizei
ihr sogar das teure Telegramm bezahlt. Jeanne war nie eine glühende Patriotin gewesen. Sie hatte das für gutgeheißen, was
ihr Vater für gutgeheißen hatte, und Lamartine hatte es schon als einen Beweis ihrer Zuneigung angesehen, daß sie ab und an
eine politische Floskel von ihm übernommen hatte – falls sie den Anschauungen ihres Vaters nicht widersprach. Wie kam eine
solche Frau dazu, ihren Gatten als Vaterlandsverräter zu verstoßen? Er blieb vor Schreck stehen: Wenn sie nun Jeanne gedroht
hatten, ihr aus irgendwelchen Gründen – als Polizist wußte er, daß sich immer etwas fand – das Kind nach der Geburt wegzunehmen
und in ein Waisenhaus zu stecken?
Jeanne hatte richtig gehandelt! Sie mußte an das Wohl des Kindes denken, an sonst nichts. Er würde sofort eine Einverständniserklärung
aufsetzen und losschicken. Jeanne mußte das Kind um jeden Preis behalten. Mit dem Gedanken, daß sein Kind in einem Heim aufwuchs,
würde er nicht leben können. Und Jeanne sicher auch nicht.
»Haben Se noch Kleinjeld?« fragte die Alte. »Wir könnten mit dem Pferdeomnibus fahren, der Weg ist weit, und ick bin ihn heute
ooch schon mal jeloofen. Meene Beene schmerzen.«
Lamartine durchsuchte seine Taschen und fand wirklich noch ein paar Münzen, die er übersehen hatte. Sie stieg mit ihm in den
doppelstöckigen Omnibus, der am Straßenrand hielt. Knapp über den Wagenrädern, die auf Vollgummireifen liefen, stand auf einer
Blende: »Allgemeine Berliner OmnibusActiengesellschaft«. Auf einem Klappschild über dem
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