Stiefbruder - Liebe meines Lebens
bitterer Stimme an, „Hast du auch die Bestimmungen zum Jugendschutz recherchiert? Ja? Ich hab mich gerade strafbar gemacht! Du bist noch nicht Volljährig, ich schon, da gibt es ganz klare Grenzen!“
Mein Kiefer klappte runter und mir kam die Szene auf seiner Party in Erinnerung, wie sehr er darauf bestanden hatte, dass ich Minderjährig sei. Er nahm das offensichtlich sehr ernst. Nicht nur in Bezug auf andere Kerle, sondern auch auf sich selbst.
„Ich würde dich doch nie anzeigen“, erklärte ich atemlos.
„Ich weiß“, murmelte Jakob, seufzte tief und sagte: „Aber wie sieht es mit unseren Eltern aus? Mit deinem Vater, hm? Er wartet doch nur darauf, dass ich Scheiße bau!“
Ich musste schlucken. Er hatte recht. Für meinen Vater wäre es schon ein Schock wenn er wüsste, dass ich schwul war. Wenn er obendrein erführe, dass ich ausgerechnet mit meinem Stiefbruder intim war – er würde Himmel und Hölle in Bewegung setzen, damit es Frösche auf uns herabregnete.
Und Jakobs Mutter? Ich musste mich an das Gespräch auf der Terrasse vor einigen Tagen erinnern. Sie war nicht gerade aufgeschlossen für die Idee, dass ihr Sohn schwul sein könnte. Auch hier – wie sie reagieren würde, wenn er dann auch noch ausgerechnet mit mir zusammen wäre – das wollte ich mir lieber nicht ausmalen.
In welchem Fall auch immer – Jakob würde es härter treffen. Mir würde man, trotz meiner siebzehn Jahre, höchstens Naivität vorwerfen – ihm jedoch, meine Unerfahrenheit ausgenutzt zu haben, egal ob das stimmte oder nicht. Das wollte ich nicht, wollte nicht, dass er wegen mir Schwierigkeiten bekam.
„Und was bedeutet das jetzt für uns?“, fragte ich wieder einmal etwas, dessen Antwort ich nicht hören wollte.
„Kannst du dir das nicht denken?“, raunte er und schlug so hart aufs Lenkrad, dass die Hupe losging. Erschrocken zuckte er zurück, dann haute er nochmal drauf. Und nochmal!
„Das war nicht die falsche Nummer“, erinnerte ich mich, „Die SMS, die du mir damals geschickt hast – das war nicht die falsche Nummer, oder?“
„Ich war besoffen“, murmelte er und ohne, dass ich etwas dazu gesagt hätte, rief er zu seiner Verteidigung: „Denkst du, das ist leicht? Ich halt das nicht aus. Ich halt das nicht aus, verdammt!“
„Ist doch okay“, murmelte ich beruhigend, „Was denkst du, wie oft ich mich schon deswegen besoffen hab.“
„Ich hab deine Nummer gelöscht, damit das nicht wieder vorkommt“, gestand Jakob, „Deswegen kam nichts mehr. Du hast das öfter gefragt. Ich hab die Nummer vom mir wichtigsten Menschen gelöscht, damit ich ihm im besoffenen Zustand keine SMS schicke, die ihn ermutigen!“
Dann sah mir Jakob verzweifelt in die Augen, seine Lippen bebten, über seine Wimpern stürzten Tränen.
„Ich bin im Arsch, Clemens. Ich bin total im Arsch deswegen.“
Sein Schluchzen war ansteckend, es tat abartig weh ihn so verzweifelt zu sehen, und ich Trottel hatte nichts geahnt, oder nicht gewagt, so etwas zu ahnen. Bestürzt legte ich eine Hand auf seine Schulter, viel lieber aber wollte ich ihn umarmen, doch hatte ich Angst ihn damit zu überrumpeln.
„Wir könnten abhauen“, schlug ich vor, „Durchbrennen.“
Jakob schnaubte belustigt und die Verbitterung in dieser Geste gab mir einen Stich ins Herz.
„War dein Plan, mir nie wieder zu begegnen?“, fragte ich nach einer Weile.
„Ja“, gab er zu. Das war ein Schlag in die Magengrube.
„Ist das … Ist das auch der Plan für die Zukunft?“, wollte ich wissen. Mein Herz schlug heftig und zäh, als wäre es eine schwarze, dicke, gallertartige Masse, die gegen Betonwände geklatscht wurde. Schweigen. Seine Hand tastete nach meiner, er flocht seine Finger zwischen meine und drückte fest zu.
„Ja“, gab er erstickt von sich.
Für Sekunden fühlte ich mich wie der damals Dreizehnjährige, dem man eben mitgeteilt hatte, dass er fünfhundert Kilometer weit weg ziehen müsse. Ein Trauma, das ich wohl nie überwunden hatte und nun wie ein Flashback hoch kroch. Ich fragte mich noch, wer dieses Kind war, das hier so entsetzlich heulte, ehe ich begriff, dass
ich
das war. Als säße ich außerhalb von mir beobachtete ich, dass ich weinte wie ein Dreijähriger, der von seiner Mutter verlassen wurde. Wie ein Knall, wie eine Ohrfeige, brach in mein Bewusstsein, dass es ein Leben
vor
dem mit Jakob, Claudia und meiner Stiefmutter gegeben hatte und dies ebenso plötzlich und unerwartet zerbrochen war.
Am Rande meiner Wahrnehmung
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