Stiefbruder - Liebe meines Lebens
realisierte ich Jakobs entsetzten Blick, bekam mit wie er versuchte, mich zu umarmen. Wie aus der Ferne beobachtete ich, dass Jakob hektisch über Schalthebel und Handbremse kletterte und sich fest an mich presste. Er schlang seine Arme um mich, drückte meinen Kopf gegen seine Brust und küsste meinen Nacken, massierte meinen Rücken und brummte immer wieder beruhigende Worte.
Nach und nach spürte ich mich wieder, fühlte seine Nähe, seine Lippen, seinen Atem, die streichelnden Hände. Ich schlang meine Arme um ihn und verbarg mein Gesicht an seiner Brust. Verdammt, war mir dieser Ausbruch peinlich. Würde mich nicht überraschen, wenn ihn das in dem Plan bestärken würde, mich nie wiedersehen zu wollen.
„Tut mir leid“, nuschelte ich und wand mich beschämt aus seinen Armen.
„Sei nicht dumm“, raunte er und strich über meinen Kopf, meine Wangen, stupste mit dem Zeigefinger mein Kinn und meine Nasenspitze. Dann kletterte er wieder auf seinen Sitz, startete den Wagen und brachte mich nach Hause. Wir sprachen kein Wort mehr, brüteten vor uns hin. Als er in die Straße einbog, in der ich mit meinem Vater lebte, hätte ich ihn am liebsten gebeten umzukehren – mit mir zu flüchten – egal wohin.
„Wars das jetzt?“, murmelte ich deprimiert, als ich die Tür öffnete um auszusteigen und blickte ihn fragend an.
Jakob stierte aufs Lenkrad, schloss für einen Moment die Augen und biss sich auf die Lippen. Aus seinem Brustkorb kam ein tiefes Seufzen, Tränen glitzerten auf seinen Wimpern und er blinzelte, ehe er den Motor startete, ich aus dem Auto sprang und die Tür zuschmiss.
Okay, er hatte blinzeln müssen, weil die Tränen seine Augen verklebten, aber ich redete mir ein, er habe damit
'Nein'
gesagt. Nein, das war
nicht
das Ende! Ich sah dem Auto nach, wie es bei der nächsten Kreuzung links abbog und wiederholte immer wieder: „Ich liebe dich. Ich liebe dich.“
Dylan [2002]
Mein ganzes Leben hatte ich mir den Moment, in dem ich für immer aus der Schule heraus marschieren würde vorgestellt, als fiele mir eine tonnenschwere Last von den Schultern. In meinen Fantasien war ich mit dem Reifeprüfungszeugnis in der Hand euphorisch aus dem Gebäude gehüpft, durchtränkt von Glücksgefühlen, hatte einen donnernden Urschrei los gelassen. Doch nun schlurfte ich aus dem düsteren Gemäuer heraus, das Zeugnis in der Hand und fühlte mich, wie all die Jahre zuvor, wie jeden Tag. Auch wenn ich versuchte mir klar zu machen, dass ich weder morgen noch irgendwann sonst je wieder hier her musste, fühlte sich das nicht besonders geil an. Es war ein durch und durch enttäuschendes Erlebnis.
Zudem hatte ich heute Geburtstag, was meinen Vater dazu veranlasst hatte, mir am Morgen tausend Schilling in die Hand zu drücken und zu sagen:
„Mach dir einen schönen Tag.“
Klar,
er
würde nicht dafür sorgen, dass es ein schöner Tag wurde, oder ein besonderer Tag. Selbst als er erfahren hatte, dass ich die Reifeprüfung bestanden hatte, brachte ihn das nicht besonders in Wallungen, sondern nur zu der Äußerung:
„Erst will ich das Zeugnis sehen, dann erst gibt’s Geld.“
Als hätte ich ihm nur deswegen von meinem Erfolg erzählt, um Kohle zu bekommen! Zunächst beschloss ich, das Geld gar nicht erst anzunehmen, um mich moralisch über ihn zu stellen, nach dem Motto:
'Ich bin nicht wie du, für mich gibt es außer Geld noch was anderes.'
Aber dann dachte ich, wenn das schon die einzige Form der Anerkennung und Zuneigung war, zu der er imstande war, dann sollte ich ihm die Chance geben, ein wahrhaft herzlicher Mensch zu sein und versuchen, ihm sowohl das Geld für den Führerschein, als auch für ein gebrauchtes Auto abzuringen.
Mein
Plan
für den Geburtstag sah dasselbe vor, wie der
Plan
für jeden anderen Tag auch. Ich würde mich daheim vor die Glotze werfen, mir eine Pizza kommen lassen und mich nicht mehr bewegen, bis mein Vater irgendwann in der Nacht heimkäme. Danach würde ich mich in mein Zimmer schleppen und so tun, als könnte ich schlafen. Mein Leben war eben total spannend. In den letzten Monaten hatte ich außer schlafen, fernsehen und lernen nicht viel gemacht. Außer man zählt Grübeln zu einer Tätigkeit, dann war ich superfleißig, denn ich dachte so viel nach, dass ich keine Zeit mehr hatte Freundschaften zu pflegen, mich auf irgendeines der banalen Themen einzulassen, dass diese interessierte. Alles war fade und bedeutungslos geworden und ihre Krisen und Probleme klangen für mich wie
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