Stiefbruder - Liebe meines Lebens
Kinderkacke. Sie waren anstrengend, nervtötend und meine Motivation, mit ihnen etwas zu unternehmen, lag noch unter jener, ein Gespräch mit meinem Vater zu führen.
Das hatte mich zunehmend zu einem Außenseiter in Schwarz gemacht – denn andere Farben trug ich nun gar nicht mehr. Als gehörte ich weder zur Klassengemeinschaft, noch überhaupt zur Spezies Mensch, verkroch ich mich in einen Zustand seelischen Stillstands, redete mir ein nichts mehr zu fühlen und mir wäre egal, wenn die Erde noch heute explodieren würde.
Wäre ich nicht so feige, ich hätte mich vielleicht vor einen Zug geworfen oder von einer Brücke gestürzt oder sonstige Wege gesucht, mich umzubringen. Aber ich hatte Angst es nicht
richtig
zu machen, und den Rest meines Lebens ein Krüppel zu sein. Außerdem – obwohl es sinnlos war, obwohl es idiotisch, dumm, naiv, blöd und unverbesserlich war, ich stellte mir oft mein Begräbnis vor, im Regen, und Jakob warf sich auf meinen Sarg – das ganze Programm, wie ich es aus schnulzigen Filmen kannte, bei denen ich immer dachte:
'Hätte der Protagonist doch nur ein bisschen länger durchgehalten.'
Davor fürchtete ich mich: Eine Chance zu verpassen!
Deswegen lebte ich noch, ertrug einen weiteren trostlosen Geburtstag und schlurfte in schwarzer Kluft über den Platz vor der Schule. Die Sonne brannte auf mich runter und brachte mich zu der Feststellung, dass sich meine Kleiderwahl nicht mit der Jahreszeit vertrug. Egal. Bald würde ich in der verdunkelten Wohnung liegen und müsste nichts von diesem grässlichen, wolkenlosen Sommertag mitbekommen.
Im vergangenen Jahr hatten Jakob und ich einige, wenige E-Mails ausgetauscht. Dabei war alles irgendwie schief gelaufen. Zumindest meiner Meinung nach. Im dummen Spiel darum, tapfer zu sein, der Situation gewachsen, willens, das Leben anzupacken wie es eben war, hatten wir uns darauf geeinigt, dass wir versuchen sollten, jemanden kennen zu lernen, sich in jemand anderen zu verlieben und diesen ganzen pseudovernünftigen Mist. Obwohl ich alles wollte, nur das nicht, hatte ich so getan, als wäre das eine prima Idee, klug und total erwachsen.
Um zu beweisen,
wie
erwachsen und vernünftig ich war, berichtete ich von einer Liaison mit einem Mitschüler. Das war erstunken und erlogen. Als Jakob die E-Mail erhalten hatte, rief er mich umgehend an – offenbar hatte er meine Nummer also doch noch, oder sich wieder besorgt, – um genaueres zu erfahren. Da hätte ich gestehen können, dass das eine Lüge war, stattdessen baute ich die Geschichte auch noch aus – weil ich, wie idiotisch, die Eifersucht genoss, die er zwar zu verbergen suchte, aber die viel zu offensichtlich war.
Wie sich das für ihn angefühlt haben musste, erfuhr ich kurze Zeit später, als er mir gestand, schon längere Zeit einen Freund zu haben. Irgendein Typ, den er in einer Bar kennengelernt hatte. Am liebsten wäre ich noch in derselben Nacht, als ich davon erfuhr, zu ihm gefahren, um den Kerl aus seinem Leben zu schmeißen. Die Vorstellung, Jakob habe nun einen Freund, tat so verflucht weh, dass ich tagelang heulte und am Ende den Kontakt komplett einschlafen ließ – wie zu allen anderen Menschen auch. Weder hatte ich Lust, meine Lüge weiter aufrecht zu erhalten, noch konnte ich mir durchlesen oder anhören, was Jakob aus seinem Leben mit diesem Arsch zu erzählen hatte.
Nach wie vor war ich fixiert auf meinen Stiefbruder, und jedes Mal, wenn ich ein Auto derselben Marke und Farbe sah, wie seines, gab es mir einen Stich im Bauch und hoffte ich, er wäre es, wäre wegen mir hier her gekommen. Manchmal gab es Tage, da meinte ich ihn gesehen zu haben, sah ihn in irgendwelchen Männern, die seinem Typus entsprachen, dieselbe Frisur hatten, eine ähnliche Statur, ähnliche Kleidung trugen, oder irgendeine Geste mit Jakob gemein hatten. Das waren die schlechten Tage. Danach war ich zu noch weniger zu gebrauchen, als sonst.
Heute würde auch wieder genauso ein schlechter Tag werden, denn am Parkplatz vor der Schule stand wieder einmal ein Auto, das seinem glich. War ja klar, dass das zu meinem Geburtstag sein musste! Und als wäre das nicht schlimm genug, lehnte auch noch ein Kerl am Wagen, Cargohosen und ein weißes Shirt, verschränkte Arme, ein Knöchel entspannt über den anderen gelegt. Er sah Jakob ziemlich ähnlich, nur dass er sehr kurze Haare hatte und einen Ohrring trug. Wäre interessant gewesen, wie seine Augen aussahen, aber hinter der dunklen Sonnenbrille konnte man sie
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