Stigma
wurde. Es herrschte so gut wie kein Verkehr, das bedeutete wohl, dass es sich um eine Nebenstraße oder um einen Vorort handeln musste. Erst als sich seine Augen an die Helligkeit gewöhnt hatten, konnten sie diesen Ort als jenen identifizieren, der in der kargen Landschaft seiner Erinnerung unter der Legende »Kindheit« existierte. Seine Müdigkeit verschwand augenblicklich, als sein Blick abermals nach rechts schwenkte, auf das hohe Gebäude mit der Hausnummer 7.
»Mein Gott!«
Ohne den Blick abzuwenden, öffnete er die Tür und stieg aus. Seine Augen waren unablässig auf die Fenster der unteren Etage gerichtet, durch die er jeden Augenblick seine Mutter zu sehen erwartete, die ihm zuwinkte und ihn zum Essen hineinrief.
»Home, Sweet Home«, trällerte Fanta und legte ihm den Arm um die Schultern.
»Aber …«, stammelte Tom. »Aber woher wusstest du …?«
»Hab ich dir eigentlich schon von meinen erstaunlichen Fähigkeiten als Hacker erzählt?«, prahlte Fanta. »Wenn man sich in die richtigen Datenbanken reinmogelt, ist es ein Kinderspiel, an frühere Adressen heranzukommen.«
Tom bedachte ihn mit seinem skeptischsten Blick.
»Okay«, gab Fanta schließlich zu und musterte verlegen seine Finger. »Karin hat’s mir gesteckt.«
»Du hast mit ihr gesprochen?«
»Ist schon ein Weilchen her.«
»Aha, und wie lange ist ein Weilchen?«
Er zögerte. »Ein paar Monate.«
Tom starrte ihn fassungslos an. »Wie lange läuft das eigentlich schon mit euren heimlichen Treffen?«
»Hey, Mann, denk jetzt bitte nichts Falsches!«
»Ach nein?«, stieß Tom hervor. »Was soll ich denn bitte schön dann denken?«
»Hör zu, Karin ist damals zu mir gekommen, klar? Sie hat mich um Hilfe gebeten, hat gesagt, du würdest dich immer mehr zurückziehen. Damals wusste ich nur ganz wenig über die Vorfälle in deiner Vergangenheit. Du hast ja nie viel darüber geredet. Also hat sie mir alles erzählt.«
»Und dabei hat sie dir einfach diese Adresse genannt?«
»Na ja, nicht direkt.«
»Was soll denn das schon wieder heißen?«
»Sie hat mir Kopien von Arztbriefen gezeigt, und von deiner Krankenakte. Da stand auch dein alter Wohnsitz drin.«
»Verstehe ich das richtig, sie hat dir einfach so vertrauliche Unterlagen von mir gezeigt?«
»Sie war verzweifelt, Tom. Sie hat sich total alleingelassen gefühlt. Und sie war der Meinung, du bräuchtest einen Freund. Und wenn du nicht so verflucht stur gewesen wärst, wäre dir vermutlich aufgefallen, wie verloren sie sich vorgekommen ist.«
Tom war sprachlos. Zum ersten Mal begriff er, wie schwer dieses Leben für Karin gewesen sein musste. Im Laufe der Jahre hatte er sich immer weiter von ihr entfernt, war zum emotionalen Einsiedler geworden. Bis heute war ihm nie klar gewesen, wie sehr seine Frau darunter gelitten hatte. Er war einfach davon ausgegangen, dass diese Art zu leben auch ihrem Ideal entsprach. Dabei hatte er in seinem grenzenlosen Egoismus völlig übersehen, dass sie an dieser Einsamkeit zerbrach. Sie hatte Freunde, war sozial engagiert. Sie brauchte den Kontakt zu anderen. All das hatte unter seiner Zurückgezogenheit gelitten, hatte auch sie zur Einsiedlerin werden lassen. Sie musste sich gefühlt haben wie in einem Käfig, an dessen Stäben sie verzweifelt gerüttelt hatte, indem sie sich bemühte, ihm seine Ängste auszutreiben. Und dabei hatte sie nichts unversucht gelassen. Doch trotz ihres Scheiterns hatte sie bis zum Schluss zu ihm gehalten. Bis zu dem Tag, als seine Ängste eskaliert waren. Er hatte nicht anderes verdient, als von ihr verlassen zu werden.
Er schluckte. »Glaubst du, es ist zu spät, mein verkorkstes Leben wieder auf die Reihe zu kriegen?«
»Dafür ist es nie zu spät, mein Freund.«
Tom nickte. Dann blickte er an der grauen Betonfassade des siebenstöckigen Gebäudes empor, hinter der er den Großteil seiner Kindheit verlebt hatte. »Na schön«, sagte er, »versuchen wir’s.«
Zögernd schritt er auf die gläserne Eingangstür zu und blieb davor stehen. Sein Blick glitt über die zahlreichen Klingelschilder, die links neben der Sprechanlage säuberlich in drei Reihen angeordnet waren. Wenzel, Höhn, Erhard, Kern, Karpinsky … Ein paar der Namen kamen ihm bekannt vor. Doch er konnte sich auch täuschen. Bis auf ein gelegentliches »Guten Tag« hatte er mit den meisten Bewohnern des Hauses nicht viel zu tun gehabt. Als Kind verspürt man noch nicht das Bedürfnis oder die Pflicht, sich eingehender mit seinen Nachbarn zu
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