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Stigma

Stigma

Titel: Stigma Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Hübner
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spielen und über die anderen herzuziehen.«
    »Typisches Platzhirsch-Gehabe«, kommentierte Fanta.
    »Ja, wahrscheinlich. Ich glaube, da war auch ein bisschen Eifersucht mit im Spiel. Nicht im klassischen Sinne, dafür waren wir noch zu jung. Aber ich glaube, als er gemerkt hat, dass … na ja, dass zwischen Babs und mir eine besondere Beziehung existiert hat, da hat er vermutlich Angst bekommen, unsere Freundschaft könnte nicht mehr dieselbe sein.«
    Sie gingen zu einer der zahlreichen Parkbänke und setzten sich.
    »Jedenfalls hat das alles verändert«, erzählte Tom weiter. »Ich weiß noch, einmal habe ich mich sogar hier im Sand mit Chris geprügelt. Er hat mich Leseratte genannt, weil ich immer eines von meinen Taschenbüchern dabeihatte und bei jeder Gelegenheit darin geschmökert habe. Eigentlich fand ich diese Bezeichnung gar nicht mal so schlimm, aber bei ihm hatte sie immer einen etwas abwertenden Charakter. Und in Babs’ Gegenwart konnte ich mir das natürlich nicht gefallen lassen.« Wieder schmunzelte er bei dieser Erinnerung. »Ich weiß nicht einmal mehr, wer von uns beiden damals gewonnen hat, vermutlich war das auch gar nicht entscheidend. Jedenfalls hat er mich nie wieder so genannt, und wir waren danach wieder gute Freunde. Aber irgendwie war es nie mehr so wie vor dieser Keilerei. Mich würde wirklich interessieren, was aus ihm und den anderen geworden ist.«
    »Finde es doch heraus«, meinte Fanta.
    »Ja«, meinte Tom und sah ihn an. »Vielleicht mache ich das sogar.«
    Er stand auf und trat an den leicht abfallenden Rand des Spielplatzes. Gleich darunter lag das weitläufige Rasengrundstück, das sich hinter den Hochhäusern erstreckte, die größtenteils ihre gewaltigen Schatten darüberwarfen. Er schloss die Augen und atmete den Duft seiner Kindheit ein, und seit langer Zeit empfand er wieder ein Gefühl von Frieden. Es tat gut, sich an all diese Dinge zu erinnern, die er all die Jahre lang verdrängt hatte, weil er seine Kindheit ausschließlich mit den schrecklichen Dingen in jenem Keller verbunden hatte. Sie hatten die schönen Erinnerungen überwuchert wie giftiger Efeu. Und plötzlich verspürte er das Bedürfnis, seine Freunde von damals wiederzusehen, um all diese Dinge gemeinsam mit ihnen Revue passieren zu lassen. Allerdings bezweifelte er, dass auch nur einer von ihnen noch bei seinen Eltern lebte. Wahrscheinlich hatten einige selbst Familie, genau wie er, oder waren aus beruflichen Gründen weggezogen.
    »Wie fühlst du dich?«, fragte Fanta, der neben ihn getreten war.
    Tom atmete tief durch. »Toll«, sagte er schließlich. »Es ist schön, zu wissen, dass in meiner Vergangenheit auch Dinge passiert sind, die es wert sind, sich daran zu erinnern.«
    Fanta knuffte ihm sanft gegen die Schulter.
    »Siehst du das untere Fenster da hinten, links neben dem Balkon?« Tom deutete auf den ersten Wohnblock. »Das war mein Zimmer. Von da konnte ich alles sehen, bis zu den Neubaugebieten.« Ein Strahlen machte sich auf seinem Gesicht breit. »Lust auf einen Spaziergang?«
    Sie gingen durch das feuchte Gras, entlang den grauen, eintönigen Hochhäusern, und Fanta hatte Mühe, mit Tom mitzuhalten. Diesen hatte plötzlich eine Euphorie ergriffen, wie er sie lange nicht mehr verspürt hatte; sie elektrisierte ihn förmlich. Es war das Gefühl, lebendig zu sein und sich frei zu bewegen, ohne die üblichen Zwänge, die seinen Verstand sabotierten. In diesem Moment war er wieder er selbst, Tom Kessler, der unbeschwerte Junge, der über eine Wiese laufen konnte, ohne dabei Angst zu haben. Und er war wieder zurück, in seinem Revier.
    »Da drüben, in den Einbuchtungen, unter den Balkonen, haben wir uns als Kinder immer versteckt«, rief er aufgeregt, und es gelang ihm kaum, die vielen verloren geglaubten Erinnerungen zu verarbeiten, die jetzt auf ihn einstürzten. »Und da, an dem Abhang, haben wir Wettrennen mit unseren Rädern veranstaltet.« Er lachte laut auf, während sein Blick hektisch umherhuschte. »Da vorne, an der Biegung, hat Chris mal sein Zelt aufgeschlagen, bis der Hausmeister gekommen ist und einen riesigen Aufstand gemacht hat.« Atemlos blieb Tom stehen und stützte sich auf die Knie. »An dem Tag hab ich mir geschworen, dass ich später mal ein eigenes Grundstück haben werde, auf dem meine Kinder machen können, was sie wollen.« Er wartete, bis Fanta zu ihm aufgeschlossen hatte. »Und sieh mal, die Stelle dort oben.«
    Er deutete auf den Rand eines etwa fünf Meter hohen

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