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Stigma

Stigma

Titel: Stigma Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Hübner
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ihren Fahrrädern auf ihn zugerollt kamen, um ihn abzuholen. Er verspürte ein vages Gefühl von Heimat. Etwas, das er in den gefängnisartigen Mauern seines Hauses nie wirklich empfunden hatte.
    Doch als er nun auf den Stufen des Spielplatzes stand, überrannten diese Empfindungen ihn geradezu. Er betrachtete die alte Rutsche, die wie das eiserne Relikt einer längst vergangenen Epoche aus dem Boden ragte, direkt vor dem hölzernen Klettergerüst in Form einer Burg. Unwillkürlich sah er sich selbst und seine Freunde dort herumtoben, mit jener Ausgelassenheit, die nur Kinder an den Tag legen konnten. Seine Kindheit lief in all ihren Facetten vor seinen Augen ab, die sich bei diesen Erinnerungen mit Tränen füllten.
    »Tom?«, fragte Fanta. »Alles in Ordnung?«
    Ohne zu antworten, ging er weiter, bis zu der Rutsche, deren Bahn in einer großen Sandgrube endete. »Hier hat alles angefangen«, flüsterte er und deutete auf die Grube. »Ich weiß noch, wie ich hier gesessen habe, mit einer Eiswaffel in der Hand. Es war Sommer, und ich war drei Jahre alt. Meine Mutter hat dort auf einer von den Bänken gesessen. Sie hat mich angelacht, und mir ist das Eis auf die Hose und auf die Schuhe getropft.« Tom drehte sich zu Fanta um, der wenige Schritte hinter ihm stand. Durch die Tränen nahm er ihn nur verschwommen wahr. »Das ist meine früheste Kindheitserinnerung.«
    Sein Freund nickte stumm.
    Toms Finger glitten an den glatten Rändern der Rutsche hinab, als wäre sie eine Art Antenne, durch die er weitere Signale aus seiner Vergangenheit empfangen konnte. »Ich erinnere mich, wie ich mal von da oben runtergefallen bin. Ich bin so hart aufgeschlagen, dass ich total benommen war und ins Krankenhaus musste. Dort hat sich dann rausgestellt, dass es nur eine leichte Gehirnerschütterung war.« Ein Lächeln legte sich über seine schmalen Lippen. »Ich hatte wohl schon damals einen ziemlichen Dickschädel.« Seine Hand verharrte an einer Stelle, wo eine herzförmige Einkerbung die glatte Oberfläche der eisernen Konstruktion zierte. Rost hatte sich darübergelegt, und die blaue Lackierung blätterte ab. Dennoch waren die beiden Buchstaben in dem Herz noch gut zu erkennen.
    T + B
    »Mein Gott! Es ist immer noch da.«
    »Stammt das von dir?«, erkundigte sich Fanta, der jetzt neben ihn getreten war.
    »Ja. Hat mich die Spitze meines Taschenmessers gekostet. Ich habe es Babs nie erzählt, weil’s mir hinterher ziemlich dämlich vorgekommen ist. Aber ich denke, sie hat immer gewusst, von wem es stammt.« Er machte eine kurze Pause, bevor er weitererzählte. »Hier bin ich ihr zum ersten Mal begegnet. Ich muss sieben gewesen sein oder acht. Ihre Eltern sind damals zwei Stockwerke über uns eingezogen. Babs und ich haben uns auf Anhieb gut verstanden, das weiß ich noch. Mit Chris war das nicht immer so.« Er deutete auf eine weitere Einkerbung, etwas weiter unten. »Chris ist doof« war dort in ungelenker Handschrift eingeritzt, und Tom musste kichern, als er es las. »Das muss Ralf gewesen sein. Die beiden hatten sich ständig wegen irgendetwas in den Haaren, obwohl ich sicher bin, dass sie eigentlich die besten Freunde waren. Aber Chris war immer ein bisschen … na ja, ungestüm. Es war nicht immer leicht, mit ihm auszukommen, er hat ständig seine Grenzen ausgereizt und ist uns auf die Nerven gegangen. Allerdings war das nicht von Anfang an so.« Seine Finger streiften gedankenverloren über die Einkerbungen. »Wir kannten uns alle von der Schule her. Ralf und Ingo waren eine Klasse unter uns, und nach dem Unterricht haben wir uns immer hier getroffen. Manchmal hatte Chris ein paar Zigaretten dabei. Die hat er seinem Vater geklaut, und dann haben wir uns in dem Kletterturm versteckt und reihum an den Dingern gezogen, bis uns sauschlecht geworden ist. Einmal hat Ingo so gekotzt, dass wir ihn nach Hause bringen mussten. Seine Eltern haben natürlich sofort geschnallt, was los war. Hat mächtig Ärger gegeben.« Er musste lachen, als er daran dachte. »Danach haben wir das Zeug nie wieder angerührt, worüber ich insgeheim froh war, denn ich fand, es hat ziemlich widerlich geschmeckt. Aber wir haben immer zusammengehalten, verstehst du? Es hat kaum Meinungsverschiedenheiten oder Streitigkeiten zwischen uns gegeben.«
    »Bis Babs dazugestoßen ist«, mutmaßte Fanta.
    Tom nickte. »Sie war das einzige Mädchen in unserer Clique, und das hat Chris plötzlich dazu veranlasst, sich bei jeder Gelegenheit in den Vordergrund zu

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