Stigma
ich dachte nur … Irgendwie hat mich das an etwas erinnert. Ist nicht weiter wichtig. Bin wohl einfach übermüdet.«
»Also gut, wir sollten uns beeilen, bevor noch mehr von denen auftauchen.« Er deutete in Richtung des Streifenwagens.
Noch immer starrte Tom ihn nachdenklich an.
»Was ist?«, fragte Fanta. »Soll ich mich etwa umdrehen?«
Wenige Minuten später führte Tom auf dem schmalen Kiesweg sein neues Outfit vor, in dem er sich sichtlich unwohl fühlte. Seine Füße steckten in glatten braunen Cowboystiefeln, die ihm ein wenig zu groß zu sein schienen. Darüber trug er eine schwarze Jeans mit hellen Nähten und einer Stickerei in Rot und Blau auf der Knopfleistenabdeckung, die wohl eine Art indianisches Symbol darstellte. Die Ärmel des roten Hemdes waren ihm etwas zu lang; außerdem hatte das Hemd eine Brusttasche, in der er locker seine Geldbörse hätte verstauen können. Abgerundet wurde seine Erscheinung durch ein beigefarbenes Tuch, das er locker um den Hals geknotet hatte.
»Und du meinst, damit falle ich weniger auf?«, fragte er skeptisch.
»Also, ich finde es ziemlich cool«, stellte Fanta sichtlich zufrieden fest. »Hat fast schon was von Steve McQueen«, kicherte er.
»Na, ich weiß nicht.« Tom schaute bedenklich an sich herab. »Ich komme mir eher vor wie John Wayne in einem Karl-May-Film. Und du bist wirklich sicher, dass das kein Karnevalskostüm ist?«
»Du siehst gut aus, glaub mir. Musst dich nur erst dran gewöhnen.«
»Na schön, wie du meinst«, gab Tom sich schließlich geschlagen. »Und was jetzt? Reiten wir zusammen in den Sonnenuntergang?«
»Für ein Happy End ist es noch zu früh«, wehrte Fanta ab und verstaute Toms Sachen im Kofferraum. Dann öffnete er die Fahrertür. »Erst mal sollten wir herausfinden, wer dieser Kerl ist und was er von dir will.«
»Und wie willst du das anstellen?«
»Indem wir deiner Vergangenheit einen Besuch abstatten. Vielleicht bringt uns das ja weiter.« Er stieg ein und ließ den Motor an.
Tom zögerte ein paar nachdenkliche Sekunden lang. Dann stieg auch er in den Wagen.
Fanta fuhr den Weg zurück bis auf die Hauptstraße. Er folgte ihrem Verlauf bis circa hundert Meter vor den Kreisverkehr und bog dann nach links auf die Zufahrt zur Autobahn ab. Dabei schien er sich kaum darum zu bemühen, nicht aufzufallen. Obwohl sie sich kurz im Sichtfeld des Streifenwagens befanden, der hinter dem Kreisverkehr stand, schenkte er ihm keinerlei Beachtung. Entweder hatten sie ganz einfach das Glück des Unschuldigen, oder an der Aussage, dass Dreistigkeit immer gewinnt, war tatsächlich etwas dran. Jedenfalls machte die Streife keinerlei Anstalten, ihnen zu folgen. Tom dachte noch darüber nach, als ihn die Müdigkeit plötzlich überrollte wie eine Lawine und sich bleischwer auf seine Lider legte. Keine drei Kilometer weiter war er eingeschlafen, während sie auf der Autobahn in Richtung Wiesbaden fuhren.
Etwa eine Stunde später
Wiesbaden, Stadtteil Biebrich
Montag, 22. Mai
T om?«
Fantas Stimme klang, als wäre sie Lichtjahre entfernt.
»Tom, wach auf!«
Er spürte eine Hand, die fest seinen Arm packte und an ihm rüttelte. Schwerfällig öffnete Tom die Augen, die lediglich grelle, schemenhafte Umrisse wahrnahmen. Nur schrittweise bildeten sich Details heraus, wie beim Aufbau einer Computergrafik, die schließlich zur grauen Fassade eines Hochhauses wurden, das rechts von ihm über das Seitenfenster des Wagens hinaus aufragte.
»Was …?« Langsam richtete er sich auf und rieb sich den schmerzenden Nacken. »Bin ich eingeschlafen?«
»Das wäre vermutlich untertrieben«, sagte Fanta. »Du warst dermaßen weggetreten, dass ich schon dachte, du hättest das Zeitliche gesegnet.«
»Tja, ich schätze, ich brauchte dringend ein bisschen Erholung.« Er stöhnte und reckte sich. »Wo sind wir?«
»Zuhause, mein Freund.« Fanta öffnete die Tür und stieg aus.
Tom, der seine Erschöpfung noch immer nicht ganz abgeschüttelt hatte, schaute blinzelnd hinaus. Die Müdigkeit machte seine Augen so lichtempfindlich wie die eines Maulwurfs nach langem Winterschlaf. Die Sonne hatte sich mittlerweile die Vorherrschaft zurückerkämpft, doch sie stand so tief am nachmittäglichen Himmel, dass ihre Strahlen ihn blendeten und ihm die Orientierung noch zusätzlich erschwerten. Soweit er es erkennen konnte, standen sie am Rand einer breiten, langen Straße mit schrägen Parkbuchten, die auf beiden Seiten von Hochhäusern gesäumt
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