Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Stigma

Stigma

Titel: Stigma Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Hübner
Vom Netzwerk:
durfte er nicht zulassen. Angst und Wut waren jetzt seine einzigen Verbündeten. Nur sie waren noch in der Lage, seine Sinne zu schärfen und seinen Verstand davon abzuhalten, in jene rauschhafte Tiefe hinabzugleiten, deren dunkler Abgrund mit erlösender Gleichgültigkeit lockte. Sosehr er sich auch wünschte, diesem Ort mit all seinen Grausamkeiten zu entfliehen, er durfte jetzt auf keinen Fall das Bewusstsein verlieren. Das käme einem Todesurteil gleich. Denn für Tom stand es außer Frage, was dieser Irre in diesem Moment in seinem Garten tat. Er hob eine weitere Grube aus, ein weiteres Grab. Und es war nicht allzu viel von seiner ausgeprägten Fantasie nötig, um sich auszumalen, was der Wächter darin verschwinden lassen wollte. Allerdings konnte selbst eine krankhafte Persönlichkeit wie die seine kaum der naiven Vorstellung anhängen, drei frisch ausgehobene Gruben in seinem Garten würden keinerlei Verdacht erregen. Ganz abgesehen von der bizarren »Trophäe« in seinem Schrank und den Überresten seines Sohnes, die wieder in ihrem eisigen Sarkophag lagen. Und das waren nur die, von denen er wusste. Womöglich befanden sich noch mehr Leichen auf dem Grundstück. Entstellte Körper, die einmal Kinder gewesen waren und die, wie er, hier gefangen und gefoltert worden waren. Menschliche Wesen, deren Todesqualen Spuren hinterlassen hatten. Haare, Fasern, Blut … So etwas konnte man nicht so ohne weiteres beseitigen oder wegwischen. Es blieb immer etwas zurück, das wusste Tom aus dem Fernsehen und aus seinen Büchern. Doch diese hatten ihn nicht darauf vorbereiten können, sich einer wirklichen Leiche gegenüberzusehen, den Gestank des Todes einzuatmen. Natürlich war Tom bisher bewusst gewesen, dass es Menschen auf dieser Welt gab, die zu Mord und Grausamkeit fähig waren. Doch es war eine Sache, dem reinen, elementaren Bösen auf einer fiktiven oder dokumentarischen Ebene zu begegnen; ihm direkt gegenüberzustehen und diesen unberechenbaren Wahnsinn hinter der scheinheiligen Fassade eines ganz normalen Daseins aufblitzen zu sehen war etwas ganz anderes. Bis heute war er immer davon ausgegangen, dass man das Böse erkennen konnte, dass es sich auf Dauer nicht verbergen ließ und nur dort zu finden war, wo man es auch vermutete. Nicht hier, nicht in dieser Gegend, in der er aufgewachsen war und wo er so viele unbeschwerte Stunden verbracht hatte. Hier, an seinem sicheren Ort, seinem Zuhause. Jetzt jedoch war ihm auf erschreckende Weise klargeworden, dass es auf dieser Welt keinen sicheren Ort gab. Das Böse war wie ein Virus, das sich mit dem Deckmantel der Harmlosigkeit tarnte, sich einschlich und schließlich jede Zelle befiel. Dass man dieses Virus in einer Gegend wie dieser weniger vermutete als in einem Armenviertel oder einem Gefängnis, machte einen im Nachhinein nicht weniger davon betroffen. Und im schlimmsten Fall nicht weniger tot. Er fing an, sich zu fragen, welche Sichtweise eigentlich die naivere und verrücktere war? Betrachtete man die Welt durch die verzerrten Strukturen dieses Irren, war seine Sicht der Dinge bestimmt nicht weniger einfältig, als Toms eigene es gewesen war.
    Der Moment, wo sie vor meiner Tür stehen, ist der Moment, in dem du stirbst.
    Anscheinend hoffte er noch immer, unbeschadet aus alldem herauszukommen, seine Schätze nicht hergeben zu müssen. Warum war Tom wohl sonst noch am Leben?
    Weil eine Katze nicht nur tötet, um ihren Hunger zu stillen, schickte er sogleich stumm hinterher.
    Willst du mit mir spielen?
    Ja, das Ganze war für den Wächter zu einer Art Spiel geworden, in dem der Tod nur etwas Nebensächliches darstellte und, so vermutete Tom, nicht einmal beabsichtigt war. Dieser Kerl hasste es, verlassen zu werden. Und der Tod war ein endgültiger Abschied. Vielleicht konnte sein krankes Hirn ihn deshalb nicht akzeptieren, was immerhin eine Erklärung für dieses Gruselkabinett hier wäre. Aber hoffte er tatsächlich, ihn hier unten für alle Ewigkeit einsperren und foltern zu können? Wie verzweifelt und einsam konnte der kranke Geist eines Menschen sein?
    Tom setzte sich unter erheblichen Schwierigkeiten auf. Sein geschundener Körper schien nur noch aus Schmerz zu bestehen, der wie eine wabernde Masse in ihm pulsierte und jede Bewegung zu einem Akt eiserner Überwindung machte. Seine Augen blieben auf die Kellertür gerichtet. Hatte der Wächter sie absichtlich offen gelassen? Wollte er ihn womöglich auf die Probe stellen? Du musst es riskieren, dachte er,

Weitere Kostenlose Bücher