Stigma
oder du gehst drauf!
Mühsam und unter Höllenqualen begann er sich aufzurichten. Seine Rippen schmerzten bei jedem Atemzug. Das rechte Bein dagegen fühlte sich zunächst seltsam taub an, doch er konnte es belasten. Erst als die geschwollene, glühende Haut über den Brandstellen bei jeder Bewegung zu spannen begann, setzte das Feuerwerk des Schmerzes wieder ein und sprühte wilde Formationen in sein wundes Fleisch. Er kam nur langsam voran, doch der Raum war nicht so groß, dass ihn das zu kümmern brauchte. Eine Flucht war ohnehin undenkbar. Er würde nicht weit kommen, sein Zustand machte das unmöglich. Deshalb ignorierte er die Kellertür und konzentrierte sich ganz und gar auf die Werkbank, die in Form eines umgedrehten L links hinten an der Eckwand verlief.
Als er sie erreichte, ließ er den Blick hastig über die Werkzeuge gleiten, die über der Bank an Haken befestigt waren. Er entdeckte Schraubenschlüssel, Sägeblätter, verschiedene Zangen und eine ganze Reihe von Bohraufsätzen. An einigen klebte getrocknetes Blut, von dem Tom sich gar nicht erst auszumalen versuchte, woher es stammte. Stattdessen war er damit beschäftigt, einen Gegenstand zu finden, mit dem er den Wächter ohne viel Kraftaufwand außer Gefecht setzen konnte. Zuerst dachte er an einen Hammer. Er überflog das Durcheinander von geöffneten Farbdosen, Pinseln und verdreckten Lappen auf der Arbeitsplatte, bis er schließlich fündig wurde. Neben dem Feuerzeug und dem übervollen Aschenbecher lag ein breiter, langstieliger Hammer. Doch als er danach griff und ihn in der Hand wog, kam er ihm zu schwer vor. Er brauchte etwas, mit dem er trotz seines geschwächten Zustandes schnell und überraschend handeln konnte. Außerdem hatte er nichts am Leib, worunter er den Hammer hätte verstecken können. Also legte er ihn wieder an seinen Platz zurück. Daneben entdeckte er die Lötpistole, der er die Wunden an seinem Bein verdankte. Wie gerne hätte er diesem Dreckskerl damit alles heimgezahlt, hätte sie ihm in sein pochendes Fleisch gestoßen, bis er sich vor Schmerzen wand und um Gnade bettelte.
Ein leises Geräusch war zu hören; er konnte nicht sagen, ob er es sich in seiner Panik bloß eingebildet hatte. Nervös drehte er sich um. Doch es war niemand sonst im Raum, der plötzlich immer kleiner zu werden schien, als würden die Wände sich auf ihn zubewegen. Die Tür stand noch immer offen, lockte mit dem Duft einer Freiheit, die er nicht erreichen konnte. Nicht, solange dieser Geisteskranke da draußen war und seinen Friedhof bestückte. Tom musste sich beeilen. Die nächste Grube war für ihn bestimmt.
Er zog die erste der fünf Schubladen auf, die unter der Arbeitsplatte nebeneinander angeordnet waren. Darin fanden sich mehrere kleine Kästen mit Schrauben, Nägeln und Muttern, allesamt wenig geeignet, um einen gut neunzig Kilogramm schweren Verrückten damit außer Gefecht zu setzen.
Der Inhalt der zweiten Schublade war ebenso enttäuschend. Neben zwei Dosen Farbverdünner lagen mehrere Sorten Klebeband in verschiedenen Farben und Breiten darin. Doch damit konnte man seinen Gegner nur kampfunfähig machen, wenn man ihn knebelte und fesselte, und das setzte körperliche Überlegenheit voraus, die er nicht besaß. Außerdem wollte er seinen Peiniger nicht nur bewegungsunfähig machen, er wollte ihn zerquetschen. Dieser Abschaum sollte genauso leiden wie er. Er hatte Tom Höllenqualen der Angst durchleben lassen und ihn dem Gefühl vollkommener Hilflosigkeit ausgesetzt. Es war an der Zeit, sich dafür zu revanchieren.
In der dritten Schublade fand er schließlich, wonach er gesucht hatte. Mehrere Schraubenzieher lagen darin, deren Anblick seinen Puls schneller pochen ließ. Doch als er auf seiner Suche nach dem kleinsten, griffigsten Exemplar darin herumwühlte, entdeckte er dazwischen noch etwas viel Besseres.
Ein Messer!
Es war schon sehr abgenutzt, und der Griff war dick mit Klebeband umwickelt. Auf der etwa fünfzehn Zentimeter langen Klinge klebte hier und da eine weiche, durchsichtige Substanz, von der Tom annahm, dass es Silikonmasse war. Vermutlich benutzte der Irre das Messer für Ausbesserungsarbeiten an seinen »Schätzen«. Die Schneide sah frisch geschliffen aus, und als Tom mit dem Daumen darüberfuhr, bestätigte sich dieser Eindruck. Das Messer war zwar alt, aber rasiermesserscharf.
Er schloss die Hand darum, und es schien eine seltsame Energie davon auszugehen, die durch ihn hindurchströmte und ihm ein Gefühl von
Weitere Kostenlose Bücher