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Stigma

Stigma

Titel: Stigma Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Hübner
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»Merkwürdig.«
    »Was?«, fragte Fanta.
    »Na ja, es hat sich nichts verändert. Das hier vorne war früher alles Bauland«, erklärte Tom und vollführte mit dem Arm einen weiten Bogen. »Hier haben überall Schilder im Boden gesteckt. Und trotzdem steht hier kein einziges neues Haus. Und die Rohbauten dort hinten waren meines Wissens schon damals da.«
    »Na ja«, meinte Fanta zögerlich, »dreizehn Jahre sind keine Ewigkeit.«
    »Wenn es darum geht, ein Haus zu verputzen, schon, findest du nicht?«
    »Hm.« Fanta schien einen Moment darüber nachzugrübeln. Dann schüttelte er den Kopf. »Diese Häuser sind wahrscheinlich neu. Du irrst dich bestimmt.«
    »Aber ich bin mir ziemlich sicher.«
    »So sicher, wie du glaubst, Babs hätte als Kind genauso ausgesehen wie Karin?«
    Tom erwiderte Fantas Blick, doch es gelang ihm nicht, ihm standzuhalten. »Schon möglich, dass ich da was verwechsle«, räumte er schließlich ein, obwohl Fantas Frage für ihn beinahe einem Vorwurf gleichkam. »So viel von damals liegt noch im Dunkeln.«
    Fanta beobachtete die Schatten der Hochhäuser, die immer länger wurden. »Ja, und wenn wir uns nicht beeilen, geht es uns genauso.«
    Gerade wollte Tom etwas erwidern, dann jedoch verstummte er jäh. Eiswasser schien seinen Rücken hinunterzuströmen, und plötzlich hatte er wieder das beklemmende Gefühl von Ketten, die sich um seine Brust schnürten. Unwillkürlich trat er einen Schritt zurück, als er in der Ferne die roten Schindeln des Daches erkannte, das steil über das eingezäunte Grundstück emporragte. Im warmen Schein der untergehenden Sonne schienen sie beinahe zu leuchten. Es war das erste Haus an der Straße und grenzte unmittelbar an die breite Wiesenfläche des früheren Baugebietes, auf dem sie als Kinder gespielt hatten. Aus dieser Entfernung wirkte es eher unscheinbar und hob sich auf den ersten Blick nicht weiter von den übrigen Häusern ab, die etwas abseits davon dem Straßenverlauf folgten, so als hielten sie gebührenden Abstand zu dem Grundstück. Dennoch ließ der Anblick Toms längst besiegt geglaubte Panik eine neuerliche Offensive starten, die wie ein Blizzard durch sein Inneres jagte. Sein Atem wurde flacher und schneller, brachte seinen Herzschlag aus dem Takt.
    Fanta hatte die Veränderung bemerkt, die mit seinem Freund vorging. Er folgte Toms Blick, bis er dessen Ziel fand. Selbst seine sonst so unerschütterliche Fassade bekam Risse, als er das Haus erblickte. »Das ist es, nicht wahr?«
    Obwohl es eine Frage war, benötigte sie keine Bestätigung.
    Tom räusperte sich. »Es …«, begann er zögernd, als wären die Worte verborgene Artefakte, die er erst in den verschütteten Kammern seines Verstandes ausgraben musste, »… es sieht noch genauso aus wie in meiner Erinnerung.« Sosehr er sich auch von dem Gebäude bedroht fühlte, es gelang ihm einfach nicht, sich dessen Anblick zu entziehen. Es übte dieselbe morbide Faszination aus wie das alte, verfallene Haus an der Straße zu seinem Grundstück. »Ich denke, dort finden wir, wonach wir suchen.«
    »Worauf warten wir dann noch?«
    »Hör zu.« Tom packte Fanta fest am Arm. »Wenn wir dort sind, musst du mir eins versprechen: Egal, was vielleicht mit mir passiert, du darfst nicht eingreifen, hast du verstanden?«
    Fanta legte die Stirn in Falten. »Was genau passiert denn in solchen Situationen mit dir?«, erkundigte er sich besorgt. »Ich meine, rastest du dann völlig aus und schlägst um dich?«
    »Ich weiß es nicht. Wahrscheinlich stehe ich einfach nur da und starre Löcher in die Luft, während die Erinnerungen über mich hereinbrechen. Was auch geschieht, halt dich einfach zurück. Sprich mich nicht an, und fass mich vor allem nicht an. Das würde alles kaputt machen.«
    »Na schön«, willigte Fanta etwas unsicher ein. »Wie du meinst.«
    Tom atmete tief durch.
    Es dauerte fast eine Viertelstunde, bis sie das Grundstück erreicht hatten. Als Kind hatte Tom diese Strecke oft zu Fuß zurückgelegt, hatte dafür jedoch nie länger als zehn Minuten gebraucht. Jetzt jedoch kam es ihm vor, als ginge von dem Gebäude eine unheimliche Kraft aus. Eine Art umgekehrtes Magnetfeld, das ihn fernhalten wollte. Plötzlich hörte er die Stimmen seiner Freunde, die ausgelassen über die Wiese tobten. Sie drangen aus den Tiefen seines Verstandes empor wie ein entferntes Echo seiner Erinnerung, dessen Widerhall wie eine Fata Morgana durch sein Bewusstsein flimmerte. Er hörte, wie sie lachten und seinen

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