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Stigma

Stigma

Titel: Stigma Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Hübner
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Macht und Überlegenheit vermittelte. Ein Sturm der Entschlossenheit fegte durch sein Inneres, dessen Kraft seinen Hass und seine Wut weiter schürte. Trotzdem war da etwas, das ihn zögern ließ. Jene winzigen, aber schwerwiegenden Zweifel, die jegliches Glücksgefühl nach sich zog. Seine physische Verfassung war nicht die richtige Voraussetzung für einen Überraschungsangriff, sie war wie das bröckelnde Fundament eines Hauses, das jeden Moment einzustürzen drohte. Bei jeder Bewegung flammte der Schmerz auf wie die blinkenden Lichter eines Spielautomaten. Wenn er nun nicht schnell genug war? Wenn er nicht genügend Kraft aufbringen konnte, den Wächter nur geringfügig verletzte? Einen längeren Kampf könnte er nicht durchstehen, der Kerl war stark wie ein Bulle. Einzig und allein das Überraschungsmoment war auf seiner Seite. Ihm blieb nur diese eine Chance, die sich hier in Gestalt dieses alten Messers offenbarte.
    Hastig durchsuchte er auch noch die beiden verbliebenen Schubladen. Er hätte nicht genau sagen können, warum. Vielleicht aus Gründlichkeit, um all seine Möglichkeiten auszuschöpfen. Eine äußerst unwahrscheinliche Möglichkeit war die Hoffnung, dass der Kerl hier irgendwo auch eine Schusswaffe versteckt hatte, mit der Tom das Risiko eines Kampfes erst gar nicht würde eingehen müssen. Doch wie nicht anders zu erwarten, erwies sich diese Hoffnung sehr schnell als unbegründet. Trotzdem stieß er bei seiner Suche auf etwas, das ihn aufmerken ließ.
    In der hintersten Schublade lag ein Fotoalbum. Es hatte einen roten Einband, der an den Rändern und Ecken bereits einzureißen begann. Zunächst wunderte Tom sich, wieso der Wächter etwas so Persönliches in der Schublade einer Werkbank im Keller verstaute. Vorsichtig zog er das Album heraus und schlug es auf.
    Die ersten Bilder, so vermutete Tom, zeigten den Sohn des Wächters kurz nach seiner Geburt. Ein zartes, fast kahlköpfiges Wesen in den Armen seiner erschöpften, aber glücklichen Mutter. Auf den weiteren Seiten waren Schnappschüsse von diversen Geburtstagen, auf denen der Junge bereits älter war. Seine hellblonden Locken füllten die Bilder, während er Kerzen auspustete. Dazwischen ein paar Urlaubsfotos – der Junge mit Schaufel und Plastikeimer am Strand, der Junge mit seiner Mutter vor einer Gebirgslandschaft, der Junge in einem Planschbecken im Garten –, keins der üblichen Klischees schien ausgelassen worden zu sein. Und immer zeigten die Aufnahmen fröhliche, unbekümmerte Gesichter. Erst im letzten Drittel des Albums bemerkte Tom eine deutliche Veränderung. Hier waren fast ausschließlich Innenaufnahmen zu sehen, bei denen kein besonderer Anlass zu erkennen war. Und das Lächeln des Jungen, ganz besonders aber das der Mutter, wirkte plötzlich aufgesetzt und gestellt, als hätte sie jemand eingeschüchtert und zu diesen Fotos gezwungen.
    Sie haben mich manchmal wütend gemacht, verstehst du?
    Tom schluckte, als er die Haare der Frau betrachtete, die sie auf den Bildern zu einem Pferdeschwanz gebunden trug. Ein kaltes Kribbeln durchzog seinen Nacken, als er den Blick nach links zu der grauen Decke gleiten ließ, neben der noch immer die groteske Perücke auf dem Boden lag wie ein totes, ausgetrocknetes Tier. Der Wächter hatte sie dort liegen lassen, nachdem sie ihm bei seinem Wutanfall vom Kopf gerutscht war. Die dunkelbraunen Haare, noch von Resten goldblonder Strähnen durchzogen, glichen in Länge und Farbe exakt denen auf den Fotos. Demnach waren dies wohl die letzten Aufnahmen, die die Frau lebend zeigten. Tom begann sich zu fragen, ob sie noch bei Bewusstsein gewesen war, als ihr die Haare vom Kopf geschnitten worden waren. Das Kribbeln auf seinem Rücken schwoll daraufhin sogleich zu einem eisigen Gletscherfluss an. Wahrscheinlich hat sie auch gegen eine von seinen Regeln verstoßen, dachte er und blickte voller Mitgefühl auf das Bild der Frau hinab.
    Schnell konzentrierte er sich wieder auf das Foto des Jungen, der – bis auf die gelockten blonden Haare und die silberne Zahnspange, die durch sein künstliches Lächeln zum Vorschein trat – keinerlei Ähnlichkeit mehr mit jenem Etwas besaß, das in der Kühltruhe lag. Tom hatte den Verdacht, dass der Wächter diese letzten Bilder des Jungen als Vorlage für seine »Modellierarbeiten« benutzte. Deshalb bewahrte er das Album auch hier auf. Schon bei dem Gedanken daran drehte sich ihm abermals der Magen um. Doch es verdeutlichte ihm auch die Verzweiflung, mit

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