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Stigma

Stigma

Titel: Stigma Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Hübner
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Namen riefen. Tom, der Anführer. Tom, den nichts erschüttern konnte. Diese Signale verstärkten das unheilvolle Gefühl in ihm, das sich immer drückender um seine Brust legte wie eiserne Schraubzwingen.
    Schließlich standen sie vor dem hölzernen Lamellenzaun, der das Grundstück an der Rückseite begrenzte. Die Luft schien zu vibrieren, war jetzt fast schon ein physisches Hindernis. Dieses merkwürdige Gefühl wurde immer stärker, bis Tom den Eindruck hatte, er könnte die Atmosphäre mit seiner nächsten Bewegung sprengen wie ein Überschallflieger. Eine Weile stand er da und starrte auf die Stelle, wo seine Kindheit ein so jähes Ende gefunden hatte. Nicht einmal sechshundert Meter lagen zwischen seiner ersten und seiner letzten Kindheitserinnerung, zwischen kindlichem Glück und grenzenlosem Wahnsinn. Dieser Gedanke ließ tiefe Traurigkeit in ihm aufsteigen, und mit einem Schlag wurde er von den Emotionen überwältigt, die über ihn hereinbrachen.
    Er stürzte vor und hämmerte mit beiden Fäusten wild gegen den Zaun.
    » DU VERFLUCHTER DRECKSKERL !«, schrie er aus tiefster Verzweiflung heraus. » WIE KONNTEST DU MIR DAS ANTUN ?«
    Das Feuer seiner Wut erlosch ebenso jäh, wie es aufgelodert war. Seine Beine zitterten und gaben schließlich nach, und er sank schluchzend auf die Knie wie ein Betender vor einem Altar. Seine Stimme war nur noch ein Flüstern. »Wie konntest du mir das antun?«
    Fanta eilte zu ihm; er wollte ihm helfen, ihm beistehen, irgendetwas tun, doch Tom hob abwehrend die Hand.
    »Nein! Du hast es versprochen!«
    Fanta zögerte, trat dann aber zurück und überließ ihn sich selbst.
    Noch immer kniete Tom vor dem Zaun. Langsam ließ er die Hände über die lasierte Oberfläche gleiten, als wäre diese Umzäunung ein göttliches Symbol, dem er sich unterwarf. Seine Finger spürten die Struktur des Holzes – die Vertiefungen, die feinen Risse, die die Jahreszeiten darauf hinterlassen hatten –, versuchten auf diese Weise wieder wachzurufen, was er als Kind an genau dieser Stelle empfunden hatte, an jenem schicksalhaften Tag vor annähernd dreizehn Jahren. Dann schloss er die Augen und presste die Stirn gegen den Zaun. »Komm schon«, flüsterte er ihm zu, als wäre er ein lebendiges Wesen, das nur darauf wartete, geweckt zu werden. »Spiel mit mir. Hol mich in deinen Keller zurück, und bring es zu Ende. Zeig mir, was ich wissen muss … Komm schon!« Seine Finger krallten sich in die Zwischenräume der Lamellen, schienen sich daran hochziehen zu wollen, wie damals, als er über diesen Zaun geklettert war. Und plötzlich spürte er es. Ein Gefühl, als öffne sich etwas in seinem Kopf. Gleichzeitig glaubte er, von Treibsand umgeben zu sein, der ihn hinabzog und ihn zu verschlingen drohte. Wärme durchströmte ihn, und er meinte zu spüren, wie die elektrischen Impulse in seinem Gehirn durch die dunklen Tunnel seiner Vergangenheit rasten, um sie zu erhellen. Obwohl die Sonne bereits tief über den Dächern der Hochhäuser stand, schien ihr grelles Licht dem dunklen Holz jegliche Farbe zu rauben. Schließlich wurden die Strukturen der Lamellen, die sich um die Längsstreben wanden, immer blasser, schienen sich aufzulösen, als würden die Sonnenstrahlen sie ausradieren wie die Farbpigmente eines Gemäldes.

»Ja«, schrie Tom, der sich mehr und mehr in dieses Trugbild seines Verstandes hineinsteigerte. »So ist es gut, komm schon!«
    Die Strukturen wurden noch blasser, durchscheinender. Durch die Lücken zwischen Toms Fingern wurden die schwachen, milchigen Konturen einer gemauerten Kellerwand sichtbar. Er hörte den Zug der Vergangenheit auf sich zurasen, und er war bereit, auf ihn aufzuspringen. Ein Sog erfasste ihn, als würde er in diese Szenerie hineingerissen, die mit furchterregenden Klauen nach ihm griff, bis sie ihn schließlich zu fassen bekam und ihn gänzlich verschlang …
    Er sah seine Hände vor den blanken Mauersteinen der Kellerwand. Sie waren nach oben gerichtet wie die Hände eines Volleyballspielers. Und genau wie diese warteten sie darauf, den Angriff des Gegners abzuwehren.
    »Nicht schlagen!«, flehte Tom. Doch die Worte klangen unverständlich, waren nur Laute, ähnlich der unartikulierten Aussprache eines Taubstummen.
    »Was sagst du?«, erwiderte die schroffe Männerstimme des Wächters. Die Haare waren ihm in seinem Anfall von Wahnsinn vom Kopf gerutscht. Sein kahler, hochroter Schädel war von glänzendem Schweiß bedeckt, in dem sich das Licht der Decke

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