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Stigma

Stigma

Titel: Stigma Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Hübner
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der der Verrückte bemüht war, seinen Sohn zu erhalten, ihn nicht hergeben zu müssen. Und das brachte ihn plötzlich auf eine Idee.
    Gerade wollte er das Album angewidert an seinen Platz zurücklegen, als er die eingeklebten Zeitungsausschnitte auf den letzten beiden Seiten bemerkte. » Wachmann dreht durch « lautete ein kleiner, zweispaltiger Artikel ganz oben. Neugierig überflog Tom hastig die Zeilen:
    Eine Überraschung der schmerzhaften Art erlebte am späten Freitagabend der Mitarbeiter eines Industriebetriebes am Rande von Wiesbaden, als er beim Betreten des Betriebsgeländes von einem Mann des Sicherheitsdienstes festgehalten und schließlich massiven Misshandlungen ausgesetzt wurde. Der Mitarbeiter wurde mit schweren Schlagverletzungen im Kopf- und Armbereich in ein nahe gelegenes Krankenhaus gebracht und konnte bis jetzt noch nicht zu den Vorgängen vernommen werden. »Die genauen Umstände des Geschehens sind noch nicht eindeutig geklärt«, sagte Polizeisprecher Bernd Weiler gegenüber unserer Zeitung. »Es spricht einiges dafür, dass der Mann lediglich seine Schicht antreten wollte, die um 23 Uhr beginnt, und dass er sich verspätet hatte«, sagte Weiler weiter. Anscheinend hatte der Mann seinen Betriebsausweis vergessen, weshalb der Wachmann ihn nicht durchlassen wollte. Daraufhin kam es zunächst zu einem heftigen Wortwechsel, der schließlich eskalierte. Zeugenaussagen zufolge soll der Wachmann plötzlich »ausgerastet« sein und wie besessen auf den Mann eingeschlagen haben. Die Staatsanwaltschaft hat bereits Ermittlungen angekündigt.
    Ein Wachmann, ging es Tom durch den Kopf. Er war bei einer Sicherheitsfirma angestellt gewesen. Langsam ergab das Geschwafel dieses Kerls einen verschwommenen Sinn.
    » Mädchen vermisst « lautete die Schlagzeile des Artikels darunter, neben dem das Porträt eines Kindes abgebildet war. Abgesehen von ihrem fröhlichen Lächeln hatte das Foto deutlich Ähnlichkeit mit dem Inhalt des Einmachglases im Trophäenschrank. Der Artikel besagte, dass sie Susanna Schubert hieß. Sie war gerade einmal vier Jahre alt geworden.
    Entsetzt betrachtete Tom die anderen Artikel, die wahllos auf den beiden Seiten verteilt waren. Es waren noch fünf weitere, von unterschiedlichem Umfang. Doch die Überschriften waren nahezu identisch: » Fünfjährige spurlos verschwunden «. » Ein weiteres Mädchen als vermisst gemeldet «. Tom zählte insgesamt vier Fälle von vermissten Kindern über einen Zeitraum von fünf Monaten.
    Der Kerl sollte sich lieber »der Schlächter« nennen, dachte er entsetzt.
    Bei den beiden übrigen Artikeln handelte es sich um Berichte zum Stand der Ermittlungen. » Polizei tappt weiterhin im Dunkeln « und » Sonderkommission gegründet « schilderten die verzweifelten Bemühungen der Behörden, die Kinder zu finden, und baten um Hinweise aus der Bevölkerung.
    Toms Hass wuchs in ihm wie ein bösartiger Tumor, dessen kranke Zellen seinen Verstand befielen. Seine Hände begannen zu zittern, als er die Artikel betrachtete; plötzlich sah er hinter jeder Zeile eine weinende Mutter und einen verzweifelten Vater, die das ungeklärte Schicksal ihres Kindes schier in den Wahnsinn trieb. Menschen, die ihr eigenes Kind nicht einmal zu Grabe tragen konnten, weil es im Garten dieses Monsters begraben lag, verscharrt wie ein Hund. Kein Grabstein, der die Daten ihres kurzen Lebens verkündete. Keine Gedenkstätte, an der die Angehörigen ihren unerträglichen Verlust betrauern und ihn so verarbeiten konnten. Nur ein Artikel in der Tageszeitung, der Ungewissheit und Leere hinterließ. Und die aussichtslose Hoffnung auf ein Lebenszeichen, an der schließlich ihr eigenes Leben zugrunde ging. Zum ersten Mal, seit er der Willkür des Wächters ausgeliefert war, begriff Tom, dass nicht nur seine eigene Existenz von seinem Überleben abhing. Und diese Bürde lastete schwer auf seinem Gewissen. Plötzlich sah er seine eigenen Eltern dieser Qual ausgesetzt, und dieses Bild zerriss ihm das Herz. Er konnte nicht zulassen, dass er zu einem weiteren Artikel in dieser Sammlung wurde. Zu einem weiteren ungelösten Fall in der Schublade dieses Wahnsinnigen. Er musste dieses Ungeheuer zur Strecke bringen, bevor es noch mehr Eltern ins Unglück stürzen konnte. Fast war ihm, als wären es ihre Qualen und Schmerzen, die er verspürte, ihr Hass, der ihn durchfuhr. Und er hatte in ihrem Namen genug gelitten, wollte nicht länger ein Gefangener sein. Es war Zeit, sich zu wehren. Und jetzt

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