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Stigma

Stigma

Titel: Stigma Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Hübner
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spiegelte. »Ich kann dich nicht verstehen.«
    Ein weiterer Schlag traf Tom auf die Brust und nahm ihm die Luft. Er glaubte, das Knacken einer Rippe zu hören.
    »Ich dachte, du hättest deine Lektion gelernt.«
    Der nächste Schlag traf ihn hart in die Magengrube. Tom krümmte sich vornüber.
    »Hast du deine Lektion gelernt?«
    Obwohl es unbeschreiblich wehtat, nickte Tom heftig.
    »Und wie lautet sie?«
    »Niemand widersetzt sich dem Wächter«, stöhnte er, doch es klang, als hätte er den Mund voller Watte. Sein Gesicht fühlte sich geschwollen an, und sein Kiefer knirschte schmerzhaft bei jedem Versuch zu sprechen.
    »Und warum hältst du dich dann nicht daran?« Er zeigte auf Toms durchnässte Unterhose und die Urinpfütze, in der der Junge saß. »Zuerst kotzt du, dann spuckst du mich an, und jetzt pisst du mir auch noch auf meinen Fußboden. Das hört sich für mich nicht sehr respektvoll an.«
    »Ich … ich musste ganz dringend aufs Klo«, wimmerte Tom.
    »Und was habe ich dir gesagt, was du dann tun sollst?«, fragte der Mann wie ein Lehrer, der einen minderbemittelten Schüler zurechtwies, und zeigte auf den roten Eimer. »Ich habe dich nicht umsonst losgebunden.«
    »Mein Bein«, sagte Tom, und sein gebrochener Kiefer schmerzte bei jedem Wort wie glühende Lava in seinem Mund. »Ich hatte solche Schmerzen, ich konnte nicht …«
    »Och, der arme Tom hat soolche Schmerzen«, äffte der Wächter ihn nach. »Tja, daran bist du ja wohl selbst schuld, nicht wahr? Hättest du dich an die Regeln gehalten, würde dir jetzt auch nichts wehtun!«
    Tom spürte, wie die Wut erneut in ihm zu kochen begann. Ihre Kraft war das Einzige, was ihn noch am Leben hielt, doch er war zu schwach, um sie in sich aufzunehmen, sie weiter zu nähren. »Ja, natürlich«, antwortete er und legte dabei so viel Schärfe in die Worte, wie er konnte.
    »Ach, was soll’s«, meinte der Wächter schließlich und betrachtete ihn wie eine Schabe, die es zu zertreten galt. »Auf ein paar Spuren mehr, die ich beseitigen muss, kommt es jetzt auch nicht mehr an. Allerdings werde ich mich beeilen müssen, bevor deine Freunde noch einmal hier auftauchen.« Er ließ von dem Jungen ab und richtete sich auf. »Ich schätze, da du es ja nicht einmal mehr schaffst, in einen Eimer zu pinkeln, kann ich es mir sparen, dich noch einmal zu fesseln und zu knebeln. Trotzdem rate ich dir, komm nicht auf dumme Gedanken, während ich weiter im Garten arbeite. Ich bin fast fertig, es dauert also nicht mehr lange.«
    Tom sah auf die Stelle am Boden, wo die tiefgefrorene Leiche gelegen hatte. Nur ein letzter Rest Schmelzwasser zeugte noch davon. Vermutlich lag Anna bereits in der für sie bestimmten Grube. »Ich … ich habe schrecklichen Durst«, sagte er, so verständlich, wie es ihm möglich war.
    Der Wächter hielt inne und betrachtete ihn mit einem Blick, den Tom nicht zu deuten wusste. Es war eine Mischung aus aufrichtigem Erstaunen und abgrundtiefer Verachtung. Und wieder sah der Junge den Wahnsinn in diesem Blick funkeln.
    »Du verlangst tatsächlich von mir, dass ich dir was zu trinken gebe, damit du noch mehr Unrat auf meinem Boden verteilen kannst?« Sein Lachen klang kalt und emotionslos. »Wenn du Durst hast, leck deine Pisse auf. Dann brauche ich sie wenigstens nicht aufzuwischen.« Er ging zur Tür, blieb kurz davor stehen und drehte sich noch einmal zu ihm um. Seine Augen waren so leer wie die eines Toten.
    »Ich weiß, du hasst mich«, sagte er, und seine Stimme nahm unverhofft einen tonlosen Klang an, in dem so etwas wie Resignation mitschwang. »Aber du kannst froh sein, dass ich so nachsichtig bin, nach dem ganzen Ärger, den du mir eingebrockt hast. Die anderen hatten nicht so viel Glück.« Sein Blick glitt zu Boden. »Ich weiß, du wünschst dir nichts sehnlicher, als dass deine Freunde mit der Polizei hier auftauchen, um dich zu befreien. Aber du solltest lieber beten, dass das nicht passiert. Denn der Moment, wo sie vor meiner Tür stehen, ist der Moment, in dem du stirbst, Tom Kessler.« Ohne ihn noch einmal anzusehen, ging er hinaus.
    Tom blieb reglos auf seiner Decke zurück, deren widerlichen Gestank er schon längst nicht mehr wahrnahm. Der Schmerz schien alle anderen Sinne unterdrückt zu haben, als wolle sein Körper sich nur auf seine Qualen konzentrieren und sich nicht durch Gerüche oder andere Eindrücke davon ablenken lassen. Er spürte, wie die Anspannung nachließ und das Gift der Schmerzen seinen Verstand lähmte. Das

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