Stigma
wusste er auch, wie.
Willst du mit mir spielen?
»Und ob, du krankes Dreckschwein!«, flüsterte er vor sich hin.
Entschlossen klappte er das Album zu und klemmte es sich unter den Arm. Er würde es noch brauchen. Dann nahm er das Einwegfeuerzeug und steckte es zusammen mit dem Messer in den Gummibund seiner Unterhose, um die Hände frei zu haben. Die kalte Klinge hinterließ ein angenehmes Gefühl auf seiner fiebrigen Haut. Dann öffnete er erneut die zweite Schublade und griff nach den Dosen mit dem Farbverdünner. Eine davon war bereits angebrochen und nur noch zu zwei Dritteln gefüllt. Trotzdem müsste es für seine Zwecke ausreichen. Erfreut betrachtete er die Warnzeichen auf den Dosen: Leicht entzündlich!
Er humpelte auf den gegenüberliegenden Bereich des Kellers zu. Das Album unter seinem Arm behinderte ihn ein wenig, weil es auf seine gebrochene Rippe drückte und ihm das Atmen erschwerte. Als er an der offenen Kellertür vorbeikam, spähte er vorsichtig nach draußen. Doch er konnte nur den unteren Teil der hölzernen Treppe einsehen, die leer und verlassen war. Dieser Psychopath war irgendwo da draußen, so viel war sicher, und tat, wozu sein kranker Verstand ihn trieb. Im Moment schien es jedenfalls, als wäre Tom vor ihm sicher.
Als er endlich die Truhe erreicht hatte, die hinter der geöffneten Tür stand, legte er die Sachen vor sich auf den Boden, was sein Bein mit einer Schmerzexplosion quittierte. Doch er war so auf seinen Plan fixiert, dass er nicht darauf achtete. Dann klappte er den Deckel der Truhe hoch.
Der Gestank, der ihm entgegenschlug, war unerträglich. Hätte der Wahnsinn einen Geruch gehabt, er hätte genau so gestunken. Wieder stieg der Brechreiz in seiner Kehle hoch, und er musste sich die Hand vor die Nase halten. Eilig schraubte er eine der Dosen auf und goss deren Inhalt über die Leiche. Selbst der beißende Geruch des Verdünners kam nicht gegen die Verwesungsgase an, doch immerhin machte er sie ein wenig erträglicher. Tom leerte auch die zweite Dose in die Truhe bis auf einen kleinen Rest. Die Entschlossenheit, mit der er seinen Plan in die Tat umsetzte, erzeugte ein heißes Prickeln auf seiner Haut und ließ ihn eine trügerische Hoffnung empfinden, der er sich vollkommen hingab. Von diesem Moment an war er nicht länger der hilflose Junge. Er war ein Junge mit einem Ziel. Seine Angst war verflogen, seine Schmerzen nur noch ein weit entferntes Signal jenseits seiner Wahrnehmung. Das Zittern war noch da, doch es wurde nicht mehr durch blanke Panik ausgelöst, sondern durch die Erregung, die durch seine Adern rauschte.
Plötzlich hörte er ein Geräusch. Das Knarren von Holz, schwere Schritte auf den Stufen.
Noch nicht! Seine Hand zitterte jetzt so stark, dass er kaum noch die Dose festhalten konnte. Bitte, flehte er stumm, lass mich jetzt nichts falsch machen!
Die Schritte kamen schnell näher, waren jetzt kurz vor der Tür, hinter der Tom kauerte. Er konnte bereits den schnaufenden Atem seines Peinigers hören.
Ein wenig zu hastig goss Tom den Rest des Verdünners über die eingeklebten Anzeigen. Dabei verschüttete er in der Aufregung einen Teil davon auf den Boden. Die eisigen Klauen der Panik packten abermals zu. Sein Herz trommelte so heftig gegen die gebrochene Rippe, dass er kaum Luft bekam.
Reiß dich zusammen!, befahl er sich. Du hast nur diese eine Chance!
Er drückte das Album in die kleine Pfütze, bis die Blätter die Verdünnerflüssigkeit aufgesogen hatten. Von dem beißenden Verdünnergeruch wurde ihm ein wenig schwindlig, deshalb wandte er das Gesicht ab. Dann griff seine zitternde Hand nach dem Feuerzeug, bekam es jedoch nicht richtig zu fassen, und es fiel zu Boden.
Verdammt!
Von der Tür her war ein erschrockenes Grunzen zu vernehmen. Dann wieder schnelle Schritte, die den Raum durchquerten, bis der Wächter schließlich an der Tür vorbei in Toms Sichtfeld trat. Er blieb vor der grauen Stoffdecke stehen und starrte sie ein paar Sekunden lang verwundert an, bis sein wirrer Verstand in Gang kam und er sich zu fragen begann, was hier vorging. Schließlich bückte er sich, hob die Decke auf und hielt sie an sein Gesicht. Beinahe hatte es den Anschein, als schnuppere er daran wie ein Hund, der eine Fährte aufnahm. Dann jedoch begriff Tom, dass der Mann vermutlich den chemischen Geruch des Verdünners bemerkt hatte, der wie ein beißendes Parfüm im Raum hing.
Nervös tastete er nach dem Feuerzeug am Boden. Salziger Schweiß brannte ihm in den
Weitere Kostenlose Bücher