Stigma
Doktor, bin ich mir langsam über gar nichts mehr im Klaren.« Nach einigen Sekunden verlor sein Blick etwas an Härte. »Glauben Sie mir, ich würde nichts lieber tun, als weiter auf Ihrer Seite zu sein. Aber ich weiß nicht, ob ich diesem Gefühl noch trauen kann.«
»Tom«, setzte sie an, »ich versichere Ihnen …«
»Ich halte nicht viel von Versicherungen, ganz gleich welcher Art«, fiel er ihr ins Wort. »Sie geben einem nur das trügerische Gefühl von Geborgenheit, halten aber nie, was sie versprechen, und machen Gewinn aus den Ängsten anderer. Trifft das auch auf Sie zu?«
»Hey«, ging Fanta dazwischen. »Wir sollten jetzt alle vernünftig bleiben.«
»Ich glaube nicht, dass wir bei dieser Geschichte mit Vernunft weiterkommen.«
»Mit Schuldzuweisungen aber auch nicht! Und bevor du damit weitermachst, solltest du dir eine Frage stellen«, gab Fanta mit erhobenem Zeigefinger zu bedenken. »Wenn dein Haus die Nummer neunundsiebzig hat und zwischen ihm und diesem Gebäude nur eine Gaststätte, ein Reiterhof und ein Hotel liegen, wie kann das dann Nummer sechsundvierzig sein? Mal abgesehen davon, dass so dicke Mauern innerhalb von vier Jahren nicht derart verfallen.«
»Ich sage doch, das muss eine Fotomontage sein.«
»Oder ein ganz anderes Gebäude, das nur genauso aussieht«, ergänzte Fanta.
Tom warf den beiden einen scharfen Blick zu. »Denkt von mir aus, was ihr wollt«, sagte er und schritt zielstrebig zur Tür. »Ich fahre jetzt jedenfalls zu dieser Ruine und hole meine Familie da raus.«
»Tom, es ist spät«, wandte Dr. Westphal ein. »Draußen ist es stockdunkel. Außerdem zieht bereits das nächste Gewitter auf. Wir sollten jetzt nichts Unüberlegtes tun.«
Tom machte kehrt und kam auf sie zu. »Sie können ja meinetwegen weiter hier sitzen und darüber nachgrübeln, was zu tun ist. Ich habe das schon viel zu lange getan.«
»Tom, Sie sind sehr erregt, Sie sind nicht Sie selbst.«
»Oh doch, das bin ich«, widersprach er mit Nachdruck. »Zum ersten Mal seit dreizehn Jahren.« Er richtete energisch den Finger auf sie. »Sie waren es doch, die den alten Tom Kessler zurückhaben wollte. Den Tom, der vorausgeht und der, ohne zu zögern, handelt. Nun, er steht vor Ihnen, Frau Doktor!«
Die Analytikerin hielt seinem entschlossenen Blick einige Sekunden lang stand. Dann wandte sie sich wieder an Fanta. Tom bekam gerade noch mit, wie sich die beiden zunickten.
Was dann geschah, kam so überraschend für ihn, dass er kaum reagieren konnte.
Blitzartig schnellte die Hand von Dr. Westphal aus der Tasche ihres Rocks nach oben, und fast im selben Moment verspürte Tom einen stechenden Schmerz in der rechten Schulter. Mit erschrocken aufgerissenen Augen sah er die Einwegspritze, die aus seiner Haut ragte.
»Was … was tun Sie da?«, bekam er gerade heraus, bevor er eine bleierne Schwere verspürte, die rasend schnell durch seinen Körper zog.
»Ich denke, er ist jetzt so weit«, hörte er Dr. Westphal sagen. Mit schwindenden Sinnen registrierte Tom, wie Fanta ihn skeptisch betrachtete.
»Wir werden sehen«, lautete seine Antwort.
Dann knickten Tom die Knie weg, und der dunkle Abgrund raste mit Lichtgeschwindigkeit auf ihn zu.
Wieder diese Stimmen! Sie holten ihn ein wie ein Fluch, der durch seinen Kopf geisterte und nichts außer Beklemmung hinterließ. Eine Art Ohnmacht, die dadurch erzeugt wurde, dass diese Stimmen nicht zuzuordnen waren. Sie trieben schwerelos durch sein Unterbewusstsein wie Weltraumschrott, der stetig auf seiner berechneten Umlaufbahn kreiste und dabei seine Wahrnehmung nur streifte. Doch diese Umlaufbahn hatte sich verändert, war näher gerückt. Die Stimmen wurden deutlicher, greifbarer, drangen tiefer zu ihm durch. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis er sie verstehen, sie deuten konnte. Bis er eins mit ihnen werden würde. Erst dann bestand für ihn die Möglichkeit, frei zu sein, das wusste er. Und so schwebte er weiter in der Leere seines Universums, getrieben von der Gewissheit, dass es bald so weit sein würde …
Am nächsten Morgen
Dienstag, 23. Mai
E benso schnell, wie die Fesseln der Betäubung sich um ihn geschlungen hatten, gaben sie ihn auch wieder frei und konfrontierten sein Bewusstsein mit einer völlig veränderten Umgebung, was ihn zunächst nur verwirrte. Sein Verstand benötigte einige Sekunden, um die neue Situation zu begreifen. Schlagartig schnellte er vor und fühlte Angst in sich aufwallen, die die Benommenheit
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