Stigma
aus seinen trägen Gliedern vertrieb. Er schaute sich um und fand sich auf dem Beifahrersitz von Stefans Auto wieder. Niemand sonst war im Wagen. Hastig glitt sein Blick nach draußen, wo er durch die Frontscheibe im grauen Morgenlicht die verfallenen Fassaden des alten Gebäudes erkennen konnte.
Jäh brach die Erinnerung über ihn herein wie ein Tsunami.
Stefan … Dr. Westphal … Er griff sich an seine Schulter, in der er noch immer einen dumpfen Schmerz verspürte. Die Spritze. Sie hatten ihn betäubt und hierhergebracht. Er musste mehrere Stunden geschlafen haben.
Aber was steckte hinter alldem? Waren die beiden tatsächlich für all das verantwortlich? Hatten sie gemeinsam diesen Plan ausgeheckt und seine Familie entführt? Gott, er betete, dass es nicht so war. Aber für all das musste es eine Erklärung geben, und trotz seiner Angst war er fest entschlossen, dieser Angelegenheit auf den Grund zu gehen.
Langsam öffnete er die Tür und stieg aus … und konnte sich gerade noch am Türrahmen festhalten, als er sah, dass der Wagen direkt neben der Grube stand. Die Absperrung war verschwunden, so dass die Öffnung wie eine Fallgrube nach ihm schnappte. Es gelang ihm gerade noch, sich trotz seines halb betäubten Zustandes wieder in den Wagen zu ziehen.
Er fluchte, während er in das klaffende Erdloch blickte, in dem vor neun Tagen die Leiche des kleinen Mädchens gelegen hatte. Die starken Regenfälle des Vortages hatten es zu einem schlammigen Tümpel gemacht, auf dessen Grund braunes, brackiges Wasser stand. Einen Moment lang überlegte er, ob seine Gegner ihm auf diese makabere Weise verdeutlichen wollten, dass die Grube nun für ihn bestimmt war. Doch dann dachte er an Karin und Mark und verwarf diesen Gedanken. Ausnahmsweise hatte er Wichtigeres zu tun, als über sein eigenes Schicksal nachzugrübeln. Seine Familie benötigte jetzt seine volle Aufmerksamkeit, und er hatte nicht vor, sich von irgendetwas ablenken zu lassen. Diese Entschlossenheit nahm ihm seine Angst vor dem, was ihn dort drin erwartete, und drängte den Gedanken an ein mögliches Scheitern in den Hintergrund. Es war das erste Mal seit Jahren, dass er nicht nur an sich selbst dachte, dass er andere über sich und seine Ängste stellte. Und dieses Gefühl baute ihn auf, gab ihm Selbstvertrauen. Er hatte jetzt wieder die Kraft, für andere einzustehen. Seine jahrelange Phase der Verpuppung war beendet, seine Rückwandlung abgeschlossen. Er war wieder ganz er selbst.
Tom öffnete das Handschuhfach. Wider Erwarten war es vollkommen leer. Er hätte nicht sagen können, was er darin zu finden gehofft hatte, doch er verspürte das instinktive Bedürfnis, sich seinen Gegnern nicht mit leeren Händen zu stellen. Genau wie damals in jenem Keller brauchte er irgendetwas, das ihm zumindest die Illusion ließ, nicht völlig unvorbereitet zu sein, diesen Kampf nicht schutzlos anzutreten. Doch auch in den Seitenablagen fand er nichts, was ihm nützlich erschien. Er rutschte über den Sitz auf die Fahrerseite und öffnete die Tür, die sofort von einem heftigen Windstoß erfasst und aufgerissen wurde. Zumindest der Wetterprognose seiner Ärztin konnte er also vertrauen. Ein weiterer Sturm kündigte sich an, und seine ersten Ausläufer zeigten bereits, dass er dem gestrigen in nichts nachstand. Gegen eine weitere Windböe ankämpfend, ging er zum Heck des Wagens.
Als er den Kofferraum öffnete, um nach dem Bordwerkzeug zu suchen, traf ihn der Schock wie ein Blitz. Er schrie auf und taumelte einige Schritte zurück, konnte den Blick jedoch nicht von dem Leichnam abwenden, der dort lag. Der gebrochene Blick der weit offenen blauen Augen, deren Pupillen keinerlei Regung mehr zeigten, ließ ihn schier verzweifeln.
Ein Blitz zerriss den düsteren Himmel, der sogleich mit Donnergrollen antwortete. In dem Lärm ging Toms Schrei fast völlig unter.
»Stefan!« Instinktiv wollte er ihm helfen, doch er begriff, dass hier niemand mehr helfen konnte. Sein einziger Freund war tot. Umgebracht aus Gründen, die er nicht verstand, von Menschen, die völlig skrupellos waren. Und in deren Machenschaften er auf irgendeine Weise verstrickt war. Diese Erkenntnis schlug wie eine Granate in Toms Hirn ein.
»Großer Gott, nein!« Tränen stiegen ihm in die Augen, und er fiel vor Fantas reglosem Körper auf die Knie. Er packte ihn an der Schulter, schüttelte ihn, als schliefe er nur. »Du verdammter Idiot«, schrie Tom die Wut heraus, die sich zwischen Schock und Trauer
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