Stigma
gewesen war. Plötzlich fiel ihm das Atmen schwer. Er musste sich abstützen und darauf achten, nicht zu hastig nach Luft zu schnappen; er wusste, es würde nur schlimmer werden, wenn er hyperventilierte. Erst nach einigen Minuten ließ der Panikanfall nach. Doch gerade als sein Puls wieder auf einen normalen Wert gefallen war, schwappte das Gefühl der Beklemmung erneut aus seinem Magen und lähmte jede weitere Bewegung. Er hatte den Eindruck, als balanciere er auf dem Stahlträger eines Hochhauses. Als verströmten diese maroden Mauern Angst, schwitzten sie quasi aus in Gestalt Tausender kleiner schwarzer Spinnen, die aus den Poren des Betons krochen und sich in Scharen zu seinen Füßen sammelten, um schließlich über ihn herzufallen, in jede Körperöffnung einzudringen und ihn von innen heraus zu zerfressen.
Tom atmete tief durch und ging weiter bis zu der Stelle, wo die Trümmer der Treppe lagen. Nur ein kurzer, halbwegs intakter Rest ragte noch aus dem Boden. Vier Stufen, die im Nichts endeten. Er konnte also davon ausgehen, dass man seine Familie in den unteren Räumen festhielt.
Im Keller, dachte er, und sein Magen verkrampfte sich.
Tatsächlich stellte Tom fest, dass die Treppe einen Knick machte und dann weiter abwärts verlief. Bis auf das fehlende Geländer war sie dort nahezu unversehrt und endete an einer Stahltür. Das Gefühl der Beklemmung wurde stärker, als er zögernd am Treppenabsatz stehen blieb und hinabblickte. Ein fürchterlicher Gedanke untergrub seine so fest geglaubte Entschlossenheit. Wenn er nun dort unten auch seine Frau und seinen Sohn nur noch tot vorfand?
Ich werde dich spüren lassen, was Verlust ist!
Eine weitere Panikwelle durchflutete ihn, zwang ihn, sich auf eine der Stufen zu setzen.
Geht weg, Spinnen, geht weg!
Er musste sich zusammenreißen und einen klaren Kopf bewahren. Nur so konnte er den beiden helfen. Mark und Karin waren noch am Leben, sie mussten ganz einfach am Leben sein. Sie waren die Trümpfe des Wächters, sein Wetteinsatz. Und das Spiel war noch nicht zu Ende.
Er rappelte sich auf, umklammerte den Radschlüssel mit beiden Händen und zwang sich, die Stufen hinunterzugehen. Schließlich erreichte er die Tür. Sein Herz raste so schnell, dass er mit dem Atmen nicht mehr nachkam. Keuchend lehnte er sich gegen den Stahl, der kalt gegen seine Haut drückte.
Kalt wie der Deckel einer Kühltruhe.
Geht weg, Spinnen, geht weg!
Erst als er sich wieder halbwegs gefangen hatte, bemerkte Tom die Fußmatte, die wie ein Willkommensgruß vor der Tür ausgebreitet lag. »Home Sweet Home«, verkündete sie höhnisch.
Mit einem festen Tritt beförderte Tom die Matte zur Seite. Schlagartig fühlte er eine Kraft in sich aufsteigen, die seine von Furcht gelähmten Glieder zu neuem Leben erweckte. Verbissen schlug er mit der Faust gegen die Wand, um dieses Gefühl noch zu steigern, es wie ein Feuer in seinen Eingeweiden zu entfachen.
Noch zweimal holte er tief Luft. Dann öffnete er die Tür.
In dem Raum dahinter war es stockfinster. Eine Schwärze, wie er sie sonst nur von dem dunklen Abgrund her kannte. Trotz des Restlichtes, das durch die Tür hereinfiel, konnte Tom nicht einmal seine eigene Hand erkennen, die sich blindlings vorantastete. Mit der anderen suchte er an der Wand nach einem Lichtschalter, wurde jedoch nicht fündig. Hinter sich hörte Tom weitere Deckenteile herabstürzen. Mit zitternden Beinen ging er weiter.
»Karin? … Mark?«, rief er in die Finsternis hinein. Doch er wartete vergeblich auf eine Antwort. Fast erschien es ihm, als verschlucke die Dunkelheit seine Stimme. »Ist hier jemand?«
Mit lautem Krachen fiel die Tür hinter ihm ins Schloss.
Erschrocken fuhr er herum. Nun war er endgültig von der Dunkelheit eingeschlossen. Er glaubte eine Bewegung wahrzunehmen, das leise Scharren von Schuhsohlen. Sein Blick hastete durch das schwarze Nichts, fand jedoch keinerlei Anhaltspunkte.
Und dann dieser Geruch. Er war ihm sofort aufgefallen, als er die Tür geöffnet hatte. Wie in einer Gruft. Eine drückende Mischung aus feuchtem Moder und süßlicher Fäulnis.
Der Geruch des Todes.
Geht weg, Spinnen, geht weg!
Ein kaltes Kribbeln breitete sich entlang seines Nackens aus, als wären die feinen Härchen darauf zu kleinen Fühlern geworden. Und plötzlich war er überzeugt, unmittelbar hinter sich jemanden zu spüren. Eine Gegenwart, die den ganzen Raum ausfüllte.
»Wer ist da?«, schrie er verzweifelt und wirbelte herum. Schweiß brannte in
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