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Stigma

Stigma

Titel: Stigma Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Hübner
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festgesetzt hatte. »Worauf hast du dich da bloß eingelassen?«
    Doch es half nichts. Fanta würde nie wieder aufwachen, würde nie wieder sein verschmitztes Grinsen präsentieren. Und er würde ihm nie wieder aus der Patsche helfen können. In diesem Moment kam sich Tom vor wie der einsamste Mensch auf Erden, wie ein Eremit auf dem Gipfel der Welt. Er war nun ganz und gar auf sich allein gestellt.
    Vorsichtig schob er Fantas Leichnam beiseite. Dann hob er eine Seite der Kofferraumabdeckung an. In einer Ausbuchtung gleich neben dem Reserverad steckte das Bordwerkzeug. Tom ignorierte den Wagenheber und griff stattdessen nach dem Radschlüssel. Dann ließ er die Abdeckung wieder fallen und wog das Werkzeug prüfend in der Hand. Als Schlagwaffe würde es seine Wirkung nicht verfehlen. Tom warf noch einen letzten Blick auf Fantas reglose Gestalt.
    »Tut mir leid, mein Freund«, sagte er und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. Dann wanderte sein Blick zu dem verfallenen Gebäude, das bedrohlich vor ihm aufragte. »Aber ich habe noch etwas zu erledigen.«
    Mit bedächtigen Schritten ging er auf das Haus zu.
    Der Wind wurde immer stärker, er zerrte und rüttelte an den maroden Mauern, als wären die Kräfte der Natur darauf aus, sie dem Erdboden gleichzumachen. Tom hatte Mühe, das Gleichgewicht zu halten. Lose Dachpfannen wurden weggerissen, schlugen dumpf auf den von Unkraut überwucherten Boden und zersprangen wie Glas. Der Wind hatte mittlerweile riesige Löcher ins Dach gefressen. Die Balken darunter sahen morsch aus und waren zum Teil gebrochen, der Giebel war eingeknickt. Handkantenbreite Risse durchzogen die Fassade des Hauses, so dass es beinahe an ein Wunder grenzte, dass es noch nicht in sich zusammengefallen war. Doch aus irgendeinem Grund schienen diese Mauern nicht nachgeben zu wollen. Und doch stand es außer Frage, dass es an Selbstmord grenzte, dieses Gebäude zu betreten.
    Was in Gottes Namen sollte das alles?, fragte sich Tom. Wieso hier? Weshalb gingen die Entführer ein solches Risiko ein? Was für eine Bedeutung hatte dieser Ort?
    Nagende Angst breitete sich in ihm aus, doch er kämpfte eisern dagegen an. Einen Moment lang überlegte er, ob er zur Straße laufen und von dem gegenüberliegenden Hotel aus die Polizei rufen sollte. Aber irgendetwas sagte ihm, dass das keine gute Idee wäre und dass er nicht weit kommen würde. Inzwischen hatte er gelernt, auf diese innere Stimme zu hören.
    Langsam näherte er sich dem Eingang. Nur noch ein einsames Brett versperrte den ehemals verbarrikadierten Durchlass. Erst jetzt wurde Tom klar, wie dick die Mauern waren. Hätte er den ganzen Arm durch die Öffnung gestreckt, er hätte das andere Ende nur knapp erreicht. Auch fiel ihm auf, dass das hier eigentlich gar kein Eingang war. Für ihn hatte es eher den Anschein, als hätte jemand ein Loch in die Wand gesprengt. Dieses alte Gemäuer machte ihm nicht nur Angst, es gab ihm auch Rätsel auf.
    Das Grollen des Unwetters kam näher. Abermals durchzuckte ein Blitz das Schwarz der Wolken und zerteilte sie, um sie dann wieder zusammenzufügen. Noch einmal schaute Tom zurück. Der Sturm tobte mittlerweile mit voller Wucht. Fantas Wagen schwankte in den kräftigen Böen wie ein Boot auf dem Wasser. Papierfetzen wirbelten umher, alte Getränkedosen rollten blechern über den Boden. Sträucher und Büsche knickten um. Und über alldem heulte das Tosen des Gewitters, das das altersschwache Gebäude stöhnen ließ wie die Schotten eines sinkenden Schiffes. Tom nahm all dies in sich auf, und plötzlich überkam ihn die absolute Gewissheit, dass er das alles nie wiedersehen würde.
    Einen Moment lang verharrte er regungslos. Dann drehte er sich um, riss das Brett aus seiner Verankerung und trat ins Innere des Hauses.
    Sofort entließ der Wind ihn aus seinem eisernen Griff. Nur sein Fauchen war noch zu hören. Von innen sah das Gebäude wie ausgeplündert aus, vollkommen verwahrlost. Wände waren herausgerissen worden, so dass große Teile der Decke herabgestürzt waren. Schutt lag überall auf dem Boden. Auch die Treppe, die zum oberen Stockwerk geführt hatte, war zerstört. Nichts schien mehr so zu sein, wie es einmal gewesen war. Ein völlig willkürlicher Vandalismus hatte hier stattgefunden, der für Tom nach blanker Raserei aussah. Nach einem gewaltigen Kampf.
    Er kam nur langsam voran, kletterte über Geröllberge und Teile der herabgestürzten Betondecke, bis er einen Gang erreichte, der ehemals ein Flur

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