Stigma
meinte er schließlich.
»Sie sind sich hoffentlich im Klaren darüber, wie verzweifelt das klingt.«
»Aber ich weiß doch, was ich gesehen habe!«
»Sind Sie sich wirklich sicher, Tom? Ich habe auf dem Schreibtisch in meiner Praxis auch Bilder von meinen Kindern stehen. Möglicherweise haben Sie bei einer Ihrer Sitzungen meinen Sohn darauf gesehen und projizieren ihn nun unbewusst in Ihre Wahrnehmung hinein.«
»Sie meinen, dieser Kerl ist eine Fata Morgana?«
»Ich meine, dass Ihr Unterbewusstsein Ihnen möglicherweise einen Streich spielt. Das muss nicht zwangsläufig bedeuten, dass Sie diesen Mann nicht gesehen haben. Aber weil Ihre visuelle Wahrnehmung durch die ständigen unterbewussten Rückblenden sehr stark beeinträchtigt ist, können solche Fehlinterpretationen mitunter möglich sein.«
Tom schüttelte energisch den Kopf. »Nein. Ich bin mir absolut sicher.«
»Tom«, beschwichtigte Fanta, »denk nach. Du hast selbst gesagt, dass du hin und wieder bestimmte Dinge durcheinanderbringst.«
Verzweifelt betrachtete Tom das Foto genauer. Der Mann stand vor einem Gebäude, dessen Mauern so massiv und uneinnehmbar wirkten wie die eines Hochsicherheitstraktes. Die braunen Fensterrahmen hoben sich deutlich vom Weiß der Fassade ab und verteilten sich über zwei Stockwerke. Und sie waren mit dicken Stäben vergittert. Auf den ersten Blick wäre es ihm vermutlich nicht aufgefallen, jetzt jedoch ging Tom auf, wo dieses Bild entstanden war, und seine Augen weiteten sich vor Entsetzen. Mit einem Ruck griff er nach oben und riss das Foto vom Regal, um es genauer in Augenschein zu nehmen. Sein Herz raste.
»Wann wurde dieses Foto gemacht?«, fragte er atemlos.
»Tom, was spielt das für eine Rolle?«
»Wann?«, schrie er.
Dr. Westphal sah ihn erschrocken an. »Bei … bei einer Tagung, wenn ich mich recht erinnere«, begann sie zögerlich. »Ich glaube, es ging damals um einen neuen, schwerwiegenden Fall, der ihm vorgestellt wurde. Er hat damals von einer beruflichen Herausforderung gesprochen. Das muss etwa vier Jahre her sein.«
Wie in Trance starrte Tom das gerahmte Bild in seinen Händen an. »Nein«, stieß er hervor und begann zu schwanken. »Das kann nicht sein, das ist unmöglich.«
»Tom, was ist denn los?« Fanta trat zu ihm und wollte ihn stützen.
Doch Tom entzog sich ihm. »Sie müssen sich irren«, beharrte er. Es klang beinahe hysterisch. »Das Bild ist nicht echt. Das muss eine Montage sein. Was zum Teufel wird hier eigentlich gespielt?«
Fanta unternahm einen erneuten Versuch. »Tom, was …?«
»Sieh dir das Foto an!« Er hielt es ihm hin.
Fanta studierte die Aufnahme einige Sekunden lang. »Ich … ich weiß nicht, was du meinst.«
»Kommt dir das Gebäude nicht bekannt vor?«
»Nein, nicht dass ich wüsste.«
»Denk nach. Wir sind erst vor ein paar Stunden daran vorbeigefahren.«
Fanta sah von dem Foto auf. »Du meinst doch nicht etwa diese alte, verfallene Bruchbude gegenüber von dem Hotel?«
»Doch, genau die meine ich«, bestätigte Tom. »Nur dass sie auf dem Bild nicht alt und zerfallen ist. Sie sieht aus wie neu.«
»Ja, du hast recht. Das Gebäude hat eine gewisse Ähnlichkeit. Aber wieso sind die Fenster vergittert? Sieht ja beinahe aus wie ein Gefängnis.«
»Eher wie eine Festung«, meinte Tom. »Fällt dir sonst noch etwas daran auf?«
Hastig überflogen Fantas Augen die Fotografie. »Merkwürdig«, meinte er nach einer Weile. »Ich kann nirgends einen Eingang erkennen. Vielleicht ist das die Rückseite des Hauses.«
»Was immer dieses Gebäude einmal war, es hatte nichts mit einem Haus zu tun. Auf diesem Bild sieht es eher aus wie ein Bunker, in dem jemand etwas verbergen will.«
»Aber was hat das alles mit dieser Geschichte zu tun?«
»Ich weiß jetzt, wofür diese Zahl steht.«
Fanta betrachtete ihn ungeduldig. »Mach’s nicht so spannend, Alter.«
Tom deutete auf eine Stelle des Gebäudes knapp oberhalb der linken Schulter des Mannes im Vordergrund. Erst bei genauerem Hinsehen fiel das Detail dahinter auf.
Fanta pfiff leise durch die Zähne. »Nun sieh sich das einer an«, murmelte er. »Sechsundvierzig.«
»Ja. Es ist die Hausnummer dieses Gebäudes. Und genau dort hält er meine Familie gefangen.«
Nach etlichen Sekunden des Schweigens war es Dr. Westphal, die das Wort ergriff. »Sie glauben doch nicht wirklich, dass mein Sohn etwas damit zu tun hat.«
»Ich bin mir zumindest sicher, dass er irgendwie da mit drinsteckt. Was Sie angeht, Frau
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