Stigma
braunen Augen schwankte zwischen ungläubigem Entsetzen und blanker Empörung. »Ich kann mir vorstellen, was das alles in Ihnen ausgelöst hat. Kein Wunder, dass Sie gestern am Telefon so verstört gewirkt haben. Ich hatte mir schon Sorgen gemacht.«
Tom hatte beschlossen, seinen erneuten Gedächtnisverlust ihr gegenüber nicht zu erwähnen. Vorerst zumindest. Er wollte der Sache zunächst einmal selbst auf den Grund gehen.
»Immerhin hat es bewirkt, dass ich mich erinnert habe«, meinte er, und angesichts der Ereignisse, mit denen diese Rückblende erzwungen worden war, klang es fast egoistisch und herzlos.
Dr. Westphal lehnte sich in ihrem Sessel zurück. »Das soll hoffentlich keine versteckte Kritik an meinen Fähigkeiten sein, Tom«, sagte sie halb im Scherz. »Und ich hoffe doch sehr, Sie erwarten von mir in Zukunft nicht ähnliche Methoden.« Sie sah ihm in die Augen.
»Natürlich nicht«, wehrte Tom ab.
»Das beruhigt mich«, sagte sie und beugte sich wieder zu ihm vor. »Tom, ich weiß, wie sehr Sie sich wünschen, sich an die schrecklichen Dinge von damals zu erinnern, in der Hoffnung, dann wieder ein ganz normales Leben führen zu können. Und bis zu einem gewissen Grad teile ich diese Hoffnung auch. Denn die Ereignisse, die für Ihre posttraumatische Störung verantwortlich sind, waren nur von relativ kurzer Dauer, und die Erinnerung daran kann das Gleichgewicht möglicherweise wiederherstellen.«
»Da bin ich mir seit gestern ziemlich sicher.«
»Was Sie da gestern erlebt haben, Tom, war nichts weiter als eine Intrusion. Eine Art Flashback, der Sie die traumatische Situation nacherleben ließ. Vergleichbar mit einem Film, der vor Ihren Augen abläuft. Genau wie Ihre Gedächtnislücken ist das eine typische Begleiterscheinung Ihrer Krankheit. Das Ungewöhnliche in Ihrem Fall ist, dass Sie bis gestern keinen Zugriff auf diese Ereignisse hatten, was immerhin bedeuten könnte, dass Ihre Blockade anfängt zu bröckeln. Allerdings sollten Sie deswegen nicht zu euphorisch sein. Sie fangen lediglich an, sich wieder zu erinnern, nicht mehr. Und es bleibt abzuwarten, inwiefern das gut für Sie ist.«
»Aber das verstehe ich nicht.« Tom rutschte unruhig auf dem breiten Ledersessel herum. »Sie sagen doch immer, ich soll mich meinen Ängsten stellen, dass das die einzige Möglichkeit wäre, sie zu besiegen.«
»Das ist richtig, Tom. Und ich integriere diese Aussage auch fest in meine Therapie. Weshalb bestehe ich wohl sonst darauf, dass Sie zu mir kommen? Ich könnte Sie ebenso gut in Ihrem Haus aufsuchen, um mit Ihnen zu reden. Das wäre sicher keine gängige Methode, aber in Ihrem Fall durchaus nicht abwegig. Da ich aber weiß, wie schwer es Ihnen fällt, Ihre gewohnte Umgebung zu verlassen, verlange ich, dass Sie es trotzdem tun, um Ihnen damit klarzumachen, dass es Sie nicht umbringt. Das nennt man Angstbewältigung, Tom.«
Dem konnte er nur zustimmen. Er hatte immer noch schweißnasse Hände von der Fahrt hierher. Karin hatte ihn an der Praxis abgesetzt und dann gemeinsam mit Mark beschlossen, ein paar Einkäufe zu machen.
»Das Entscheidende ist«, fuhr Dr. Westphal fort, »sich diesen Ängsten auszusetzen, nicht unbedingt, deren Ursache zu erforschen. Das kann sicherlich hilfreich sein, reduziert aber das Ausmaß der Angst nicht.«
»Aber in meinem Fall könnte es entscheidend sein.«
»Ja, vielleicht, Tom. Vielleicht kann die Erinnerung Ihnen helfen, das Ganze zu verarbeiten. Vielleicht macht sie es aber auch nur noch schlimmer.«
»Na toll«, zischte Tom zwischen den Zähnen hindurch. »So oder so, ich bin und bleibe ein verängstigter Waschlappen.«
»Tut mir leid, Tom. Ich wünschte, ich könnte Ihnen eine klarere Antwort geben. Aber die Psychoanalyse ist keine exakte Wissenschaft. Es gibt keine allumfassenden Grundsätze, die man anwenden kann. Jede Psyche ist individuell geprägt, und damit auch jedes Ereignis, welches sie aus dem Gleichgewicht bringt. Sicher, es gibt gewisse Richtlinien, an die man sich halten kann, trotzdem ist jeder Fall verschieden. Das macht die Arbeit für uns ja so schwierig. Es ist aber auch eine ständige Herausforderung und sehr spannend.«
»Es freut mich, dass ich Sie gut unterhalte, Frau Doktor«, meinte er sarkastisch.
»Jetzt werden Sie unfair, Tom.« Trotz dieses Angriffs sprach sie mit der Gelassenheit einer Psychologin. »Ich muss Sie sicher nicht daran erinnern, dass Sie am Beginn Ihrer Therapie nicht einmal imstande waren, den Keller Ihres eigenen
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