Stigma
Wand neben dem einzigen Fenster, von dem aus man einen Blick auf die Koblenzer Altstadt hatte. Sein Gesicht sah müde und angespannt aus. Erschöpft rieb er sich die Stirn und dachte darüber nach, ob er nach dem gestrigen Vorfall tatsächlich noch dazu bereit war, sich auf seine Vergangenheit einzulassen. Wieder spürte er dieses lähmende Entsetzen in sich und roch den fauligen Verwesungsgeruch.
Willst du mit mir spielen?
»Nein. Aber ich befürchte, ich habe keine Wahl«, sagte er niedergeschlagen. »Dieser Dreckskerl will, dass ich mich erinnere. Also sollte ich alles versuchen, um das zu tun, bevor noch weitere Morde geschehen.«
»Ist Ihnen mal der Gedanke gekommen, dass dieser Dreckskerl genau das von Ihnen erwartet?«, gab Dr. Westphal zurück. »Vermutlich weiß er genau, wie schädlich diese Erinnerungen für Sie sein können, und versucht, Sie auf diese Weise gezielt in den Wahnsinn zu treiben.«
»Mag sein. Aber möglicherweise komme ich so auch an ihn heran. Da die Polizei mittlerweile davon ausgeht, dass es damals einen zweiten Täter gegeben haben muss, könnten sich in meinen Erinnerungen auch Informationen verbergen, die helfen können, ihn zu identifizieren, womit dieser ganze Spuk ein Ende hätte.«
»Hm, verstehe«, meinte Dr. Westphal. »Aber warum sollte er dann wollen, dass Sie sich erinnern?«
Tom zuckte ratlos die Schultern. »Keine Ahnung. Vielleicht weil er verrückt ist? Ich weiß es nicht.«
Dr. Westphal atmete abermals tief durch und musterte Tom eingehend. Üblicherweise machte sie hinter ihrem Schreibtisch immer den Eindruck eines gelassenen und ausgeglichenen Menschen, was vermutlich für eine Psychoanalytikerin typisch war, die für ihre Patienten als Ruhepol fungieren musste. Jetzt jedoch wirkte sie eher wie jemand, der unschlüssig an einer Kreuzung steht und sich entscheiden muss, welchen Weg er einschlagen soll.
Schließlich erhob auch sie sich, was sie während einer Sitzung nur äußerst selten tat, und ging zu einem kleinen Beistelltisch an der anderen Seite des Fensters, auf dem neben einem Wasserkocher und diversen Getränkeflaschen eine Thermoskanne mit frisch gebrühtem Kaffee bereitstand. Tom beobachtete sie, während sie sich eine Tasse eingoss und Milch und Zucker dazutat. Und er musste sich dabei zusammennehmen, ihr nicht auf den Hintern zu starren, der durch ihr Nadelstreifenkostüm reizvoll betont wurde. Sibylle Westphal war achtundvierzig und Mutter zweier Kinder, hatte aber noch immer den durchtrainierten Körper einer Zwanzigjährigen. Was Tom zu der Vermutung veranlasste, dass sie den Monatsbeitrag ihres Fitnessstudios voll ausnutzte. Ihr kastanienbraunes Haar war zwar mittlerweile getönt, doch der Stufenschnitt, dessen Spitzen ihr ins Gesicht fielen, ließ sie noch immer jugendlich erscheinen. Nur die leichten Krähenfüße um ihre Augen herum, die sie ein wenig zu sehr mit Make-up zu kaschieren versuchte, ließen ihr tatsächliches Alter erahnen. Dennoch war nur schwer zu übersehen, dass sie noch immer eine äußerst attraktive Frau war, an der die Zeit nur geringfügige Spuren hinterlassen hatte. Manchmal erinnerte sie ihn sogar an seine Mutter, als diese noch jünger gewesen war.
»Für Sie das Gleiche wie immer?«, fragte sie.
Tom nickte ihr zu. »Mineralwasser, bitte.« Er trank keinen Kaffee mehr, seitdem er erfahren hatte, dass dessen anregende Wirkung die Auslöser einer Panikattacke noch verstärken konnte.
Sie öffnete eine der Flaschen und reichte sie ihm. Dann kehrte sie zu ihrem Schreibtisch zurück. »Tom«, sagte sie, nachdem sie einen Schluck aus ihrer Tasse getrunken hatte, und lehnte sich mit verschränkten Armen an die Tischplatte, »es gibt da vielleicht eine Möglichkeit, wie wir Ihre Erinnerungen zurückholen können.«
Tom sah sie erwartungsvoll an. »Ich bin gespannt, Frau Doktor.«
»Also, ich habe schon lange überlegt, ob ich Ihnen das vorschlagen soll, habe mich aber bis heute immer dagegen entschieden, weil diese Methode in den vergangenen Jahren zusehends in die Kritik geraten ist. Doch die jüngsten Entwicklungen haben meine Meinung diesbezüglich geändert; ich möchte nicht, dass Sie sich noch einmal schutzlos der Willkür einer offensichtlich fehlgeleiteten Persönlichkeit aussetzen.«
Es gehörte beinahe schon zum Wesen eines Analytikers, das Wort »verrückt« nicht in den Mund zu nehmen.
»Und von welcher Methode sprechen Sie?«, wollte Tom wissen.
»Haben Sie schon einmal von Regressionshypnose
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