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Stigma

Stigma

Titel: Stigma Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Hübner
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Gebäudes zu entziehen. Seine Sinne hafteten an diesen maroden Mauern wie Metall an einem Magneten, und er konnte sich nicht erklären, weshalb. Trotz seiner stetig zunehmenden Panik dauerte es gut eine Minute, bis er endlich den Blick abwenden konnte. Gerade als er kehrtmachen und zum Auto zurückgehen wollte, entdeckte er die Grube.
    Sie lag etwas abseits des Hauses inmitten von etwas, das früher einmal ein gepflegter Rasen gewesen sein musste, nun aber aus kniehohem Gras und Unkraut bestand. Nur der unmittelbare Bereich um die Grube und den Aushub herum war von beidem befreit worden. Vermutlich um das, was hier so makaber inszeniert worden war, jedem zugänglich zu machen.
    Ein kalter Schauer lief Tom den Rücken hinunter wie Tausende kleiner Spinnenfüße. Er zitterte am ganzen Leib, doch trotz der Starre, die ihn befiel, ging er weiter, wie von einer unsichtbaren Schnur gezogen. Wie im Rausch bewegte er sich auf die Stelle zu und hatte dabei das Gefühl, durch ein Zeitportal gesogen zu werden. Die Luft um ihn herum schien plötzlich dichter zu werden und verzerrte den Anblick wie bei einer Fata Morgana. Frische Fuß- und Reifenspuren, die von Polizei und Spurensicherung dort hinterlassen worden waren, glätteten sich vor seinen Augen wie von Geisterhand … und unmittelbar darauf fand er sich auf einem schmalen Kiesweg wieder, auf dem jeder seiner Schritte ein scharfes Knirschen erzeugte. Das hohe Gras fiel in sich zusammen und schrumpfte zu einem gepflegten Grün zurück. Dorniges Gestrüpp verwandelte sich in blühendes Buschwerk und farbenfrohe Stauden. Auch das Absperrband, mit dem die Grube noch immer gesichert war, wurde aus seiner Wahrnehmung gelöscht und löste sich auf. Seine Umgebung veränderte sich im Sekundentakt bis zurück zu jenem Punkt in seiner Vergangenheit, der für ihn als Kind zum Schicksal geworden war.
    Er befand sich wieder im Garten hinter dem Haus, in dessen Keller er als Junge beinahe umgekommen wäre. Alles hier war sauber und makellos. Die Rasenflächen um den verzweigten Kiesweg herum waren sorgfältig gemäht und strotzten vor sattem Grün. Kleine Nussbäume und Sträucher erhoben sich darauf, erblühten zu farbenprächtigen kleinen Inseln. In der Nähe plätscherte ein künstlicher Bach, und der Duft blühender Rosen umgab ihn. Inmitten dieses Kleingärtnertraums wirkte das dunkle Erdloch, auf das er sich zubewegte, so befremdlich wie ein Fleck auf einem weißen Hemd.
    Verzweifelt versuchte er, seine Beine am Weitergehen zu hindern, doch sie marschierten wie von einer fremden Macht gesteuert auf die Grube zu. Und damit unweigerlich auf das, was darin verborgen lag. Es waren Szenen, die seine Augen vor langer Zeit eingefangen hatten und die nun im Inneren seines Kopfes abgespielt wurden wie ein altes Video. Doch dieser Film bestand nicht nur aus Bildern. Es gehörten auch Geräusche, Gerüche und Gefühle dazu. Er erlebte diese Szenen noch einmal.
    Es beginnt erneut!
    Eine weitere Panikwoge überspülte ihn.
    Tom spürte, dass er etwas in den Händen hielt. Es fühlte sich leicht an, rund und narbig. Doch seine Wahrnehmung war zu sehr auf die zierliche Hand fixiert, die über den Rand des Erdlochs herausragte. Ihre Finger waren zu einer lockeren Faust gekrümmt und glänzten feucht, als würden sie in der Nachmittagssonne schmelzen. Etwas daran wirkte nicht vollständig. Es war, als betrachtete man eines dieser Bilderrätsel, die früher immer in Zeitschriften zu finden gewesen waren und bei denen man Original und Fälschung miteinander vergleichen musste, um auf die winzigen Abweichungen zu stoßen. Erst bei näherem Hinsehen bemerkte er das grausige Detail.
    Der Hand waren die Fingernägel entfernt worden.
    Herausgerissen, ging es ihm durch den Kopf.
    Sein Puls ging nun so schnell, dass er das Blut in seinen Ohren rauschen hörte. Das Geräusch übertönte beinahe seine Schritte im Kies. Ein erdiger Geruch schlug ihm entgegen, während sein Blick immer weiter an dem dünnen Arm hinabglitt, je näher er ihm kam. Verkrustete Striemen waren darauf wie von Peitschenhieben. An manchen Stellen war das Gewebe von dunklen, kraterartigen Flecken überzogen, die wie tiefe Verbrennungen aussahen. Die Haut war bläulich verfärbt und sah ledern aus, beinahe wie aus Wachs geformt. Was für ein armes Geschöpf auch immer dort lag, es musste vor seinem Tod Schreckliches durchlitten haben.
    Der Rand der Grube rückte immer näher. Tom verkrampfte sich, hielt von Angst gelähmt den Atem an,

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