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Stigma

Stigma

Titel: Stigma Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Hübner
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Überreste einer schmalen Einfahrt zu sehen. Wegen des hüfthohen Dickichts war sie nur auf den zweiten Blick zu erkennen, und obwohl Tom dieser Weg noch nie sonderlich aufgefallen war, wusste er genau, wohin er führte.
    »Halt an«, verlangte er aus einem plötzlichen Impuls heraus.
    »Warum?« Karin trat erschrocken auf die Bremse und hielt nach etwas Ausschau, das unvermutet ihren Weg kreuzen könnte. »Was ist denn?«, fragte sie verärgert, als ihre Suche erfolglos blieb.
    »Fahr einfach rechts ran.«
    Sie ließ den Wagen ausrollen und kam auf einem schmalen Fußweg etwas oberhalb der Einfahrt zum Stehen. Tom starrte aus dem Beifahrerfenster. Karin musste sich zu ihm herüberbeugen, um zu erkennen, was er sah. Doch durch die umliegenden Bäume und das wild wuchernde Dickicht hindurch war nichts zu erkennen, was diesen plötzlichen Stopp gerechtfertigt hätte.
    »Was wollen wir hier?«, fragte sie verwirrt.
    »Das weiß ich noch nicht«, erwiderte Tom und öffnete die Wagentür.
    »Du willst doch wohl nicht da hingehen.« Beklommenheit lag in ihrer Stimme, als sie begriff, was er vorhatte.
    »Ich muss es einfach sehen«, sagte Tom.
    »Papa, darf ich mitkommen?«, fragte Mark neugierig.
    »Nein!«, antwortete er entschieden. »Ich möchte nicht, dass du jemals auch nur in die Nähe dieses Grundstücks gehst, hast du verstanden?«
    »Ja«, seufzte Mark enttäuscht und ließ sich schmollend in seinen Kindersitz sinken.
    »Ihr wartet hier. Ich bin gleich wieder da.«
    Der rissige Asphalt der Einfahrt war voller Unkraut und Schlaglöcher, die der Frost der letzten Winter zu kleinen Kratern geformt hatte, so dass Tom auf jeden seiner Schritte achten musste. Etwa nach der Hälfte machte der Weg eine leichte Biegung und führte zwischen Haselnusssträuchern und Brombeerbüschen hindurch, wo er nach circa fünfzig Metern leichtem Gefälle an einem Tor aus Maschendraht endete. Zwei große Warnschilder prangten an dem rostigen Drahtnetz: »Betreten verboten« und »Einsturzgefahr«. Tom versuchte sich auszumalen, wie diese Warnungen wohl auf die Abenteuerlust jugendlicher Halbstarker wirkten. Ebenso gut hätte man unter einer großen Klingel ein Schild mit der Aufschrift »Nicht klingeln!« anbringen können.
    Das Tor wurde von einer Edelstahlkette und einem Vorhängeschloss gesichert. Beides sah im Gegensatz zum Rest neu aus. Der Torrahmen war von Rost zerfressen und der Maschendraht an der rechten Seite durchtrennt, so dass dort ein Durchgang war, sobald man den Zaun beiseitedrückte. Dies verlieh der Kette und dem teuren Schloss einen ziemlich grotesken Charakter.
    Tom starrte durch den Zaun auf das Grundstück. Es war zu zwei Dritteln von kniehohem Gras und Unkraut bedeckt. Leere Bierdosen und zerbrochene Flaschen waren überall verstreut. An einigen Stellen waren kleinere Feuer entfacht worden. Dies schien tatsächlich ein beliebter Treffpunkt für Jugendliche zu sein, und Tom konnte es ihnen nicht einmal verdenken. Hier waren sie ungestört. Niemand, der ihnen Vorschriften machte, außer ein paar Schildern, deren Botschaften ebenso wenig bis in ihre Köpfe vordrangen wie die Warnhinweise auf den zerknüllten Zigarettenschachteln, die überall herumlagen. Er konnte sie beinahe vor sich sehen, wie sie an den Feuerstellen saßen, vor den Mädchen angaben, Bier tranken und sich aufführten, als gehöre die Welt ihnen allein. Und sofort beneidete er sie darum, denn seine Jugend verfügte nicht über solche Erinnerungen.
    Sein Blick schwenkte zu dem alten Gebäude hinüber. Der ehemals weiße Putz war vergraut und bröckelte an einigen Stellen großflächig ab. Der Eingang war mit Brettern vernagelt, und die wenigen Fenster des Erdgeschosses waren eingeschlagen und zum Teil mit Plastikplanen überzogen. Dahinter schimmerten die Räume dunkel durch die zackigen Scherbenreste. Durch die Fensteröffnungen konnte Tom die ungewöhnliche Dicke der Mauern erkennen, die gut einen Meter betrug. Erst jetzt fielen ihm die rostigen Stellen um die Fenster herum auf. Er nahm an, dass diese früher einmal vergittert gewesen waren. Dieses Gebäude sah für ihn keinesfalls wie ein Depot aus, sondern vielmehr wie eine ehemalige Anstalt. Die Fenster der oberen zwei Stockwerke schienen größtenteils intakt zu sein. Wahrscheinlich traute sich dort niemand mehr hinauf, aus Angst, die Decke könnte nachgeben. Links neben dem Haus stand ein rostiger Bauschuttcontainer, bis zum Rand mit den Resten eines Mauerdurchbruches gefüllt. Er musste

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