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Stigma

Stigma

Titel: Stigma Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Hübner
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fahren können.«
    »Nein, Tom«, sagte Karin, und ihre Stimme begann zu zittern. »Ich hatte nicht einmal das Auto mit. Jenny Peters hat mich und Mark abgeholt. Du weißt doch, wer Jenny ist?«, fragte sie beinahe flehend.
    Das war die Mutter von Tanja Peters, einer Freundin von Mark. So viel wusste er immerhin. »Ja, natürlich«, versicherte er. »Aber … Wie hätte ich dann zur Therapie kommen sollen?«
    »Das hatten wir doch alles besprochen. Fanta wollte dich abholen.«
    Stefan? Das Leck in seinem Kopf schien immer größer zu werden. »Na ja«, stammelte er nervös, »dann … dann ist ihm vermutlich etwas dazwischengekommen und …«
    »Ich habe diesen Termin nicht abgesagt«, beteuerte Karin. Sie klang fast hysterisch.
    »Aber irgendjemand muss es getan haben. Denk nach, möglicherweise ist etwas passiert, und ich habe dich auf dem Handy angerufen.«
    »Mein Handy lag zuhause in der Küche. Ich hatte vergessen, es aufzuladen.« Sie hatte Mühe, die Tränen zurückzuhalten. »Tom, ich mache mir ernsthaft Sorgen um dich. Bitte ruf diesen Arzt an, und lass dir helfen«, flehte sie.
    »Lass nur, du musst dir keine Sorgen machen«, antwortete er geistesabwesend. »Ich bin nur ziemlich angespannt. Das Ganze löst sich vermutlich auf, wenn ich wieder in meiner gewohnten Umgebung bin.«
    Sie seufzte nur; ihr Atem ging stoßweise.
    Tom wusste, dass seine Worte wenig tröstlich waren. Er starrte auf die weite Landschaft, die an seinem Fenster vorbeizog, und war dabei so in sich versunken, dass er darüber sogar seine Angst vergaß. Und je intensiver er seine Gedanken durchforstete, desto klarer schienen sich zwei Möglichkeiten in seinem Kopf zu formen, die ihn beide erschauern ließen: Entweder wurde er langsam verrückt, oder jemand legte es tatsächlich gezielt darauf an, ihn in den Wahnsinn zu treiben.
    Der Rest der Fahrt bestand aus Schweigen. Tom war so in seine Gedanken vertieft, dass er es gar nicht registriert hatte, als Karin die Autobahn verließ und sich an der Ortseinfahrt in den Kreisverkehr einordnete. Pausenlos ging er die Fakten durch, in der Hoffnung, auf etwas zu stoßen, was den Geschehnissen an jenem Mittwoch eine nachvollziehbare Logik verlieh. Aber entweder entzog sich diese Logik seinem Verstand, oder es war einfach keine Spur davon vorhanden.
    Wiederum kamen sie an einer Ampel zum Stehen. An einem Zaun neben Toms Fenster wurde ein Plakat sichtbar.
    »Es beginnt erneut«, las er vor dem blutroten Hintergrund, und sein Körper erstarrte so jäh, als sei ein Blitz durch ihn hindurchgefahren. Dabei biss er sich auf die Zunge, und der metallische Geschmack von Blut breitete sich in seinem Mund aus. Er schloss die Augen, um sie kurz darauf wieder zu öffnen, und seine Sinne entspannten sich, als die weißen Buchstaben ihre tatsächliche Botschaft preisgaben: »Essen Sie gesund?«, fragte die übergroße Schrift auf dem Plakat. Darunter prangte das Logo einer bekannten Supermarktkette. Er spürte, wie die Angst wich, und war versucht, in lautes Gelächter auszubrechen.
    Ich werde wirklich langsam verrückt, dachte er. Jetzt kommen zu den Blockaden und den Angstattacken auch noch Wahnvorstellungen hinzu.
    Dr. Westphal konnte ihrer beruflichen Zukunft also beruhigt entgegenblicken, denn vermutlich würden noch ihre Kinder damit beschäftigt sein, seine verdrehte Psyche wieder geradezubiegen. Tom spürte eine leichte Berührung am Knie und zuckte erneut zusammen.
    »Entspann dich, Schatz«, sagte Karin. »Wir sind gleich da.«
    Sie fuhren durch den Stadtkern, in dem sich an beiden Seiten Geschäfte, Eiscafés und Restaurants aneinanderreihten, bis sie nach einiger Zeit an eine Abzweigung kamen, die zum östlichen Ende der Stadt führte. Die Häuserreihen lichteten sich nach und nach und machten einer Birkenallee Platz. Hier erreichte die Steigung der Straße ihren Höhepunkt, und sie passierten das größte Hotel der Stadt, dessen prächtige weiße Fassade links von ihnen hinter üppigem Grün aufragte. Immer mehr gewann die Natur in Form von blühenden Wiesen und bewaldeten Flächen die Oberhand, und je weiter sie in diese Idylle vordrangen, desto mehr Luft schien für Toms Lunge vorhanden zu sein. Es war, als lösten sich mächtige Schraubzwingen von seinem Brustkorb und ließen ihn tiefer atmen.
    Jetzt hatten sie fast den höchsten Punkt der Straße erreicht, und auf der rechten Seite tat sich in der dichten Baumreihe eine etwa zehn Meter breite Lücke auf. Darin waren die durchwucherten

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