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Stigma

Stigma

Titel: Stigma Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Hübner
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schon seit Tagen kaputt. Da können wir ja gleich Einladungen an sämtliche Irre in der Gegend verteilen.«
    »Ach, Tom«, seufzte Karin und zog mit einem ratschenden Geräusch die Handbremse an. »Das ist einer der vielen Vorteile, wenn man hier draußen wohnt. Man muss hier nicht in einer Festung leben, um einigermaßen sicher zu sein.«
    Unwillkürlich rief Tom sich die Worte des Kommissars ins Gedächtnis, was ihn daran erinnerte, dass er einen Termin mit der Sicherheitsfirma ausmachen musste, die er sich noch am gestrigen Abend aus dem Internet herausgesucht hatte. Allerdings fragte er sich ernsthaft, welchen Sinn eine Alarmanlage hätte, wenn sämtliche Türen offen standen. Karin gegenüber hatte er noch nichts von Dorns Bedenken bezüglich ihrer Sicherheit erwähnt, um sie nicht unnötig zu erschrecken. Doch wie es aussah, war diese Sorge wohl völlig unbegründet. Denn wenn er ihrer Aussage von eben Glauben schenken durfte, schien sie das Ganze nicht weiter zu beunruhigen. Was in ihm die Frage aufkeimen ließ, ob ihn das beunruhigen sollte. Angesichts der Tatsache, dass quasi vor ihrer Haustür die Leiche eines kleinen Mädchens gefunden worden war, grenzte ihre Sorglosigkeit beinahe schon an Verleugnung. Möglicherweise verdrängte sie ihre Angst, um sie so nicht greifbar werden zu lassen. Eine Methode, die Tom nur allzu vertraut war. Dennoch glaubte er – nein, er war sich fast sicher –, dass sie der Angelegenheit tatsächlich nicht allzu viel Bedeutung zumaß. Für sie schien das Leben weiter in geordneten Bahnen zu verlaufen. Es hatte ihn einiges an Überredungskunst gekostet, sie davon zu überzeugen, dass es im Augenblick sicherer für Mark wäre, ihn nicht mehr in den Kindergarten zu schicken.
    »Ich werde nicht zulassen, dass diese Geschichte auch noch Marks Leben beeinflusst«, hatte sie gesagt und schließlich nur unter Protest zugestimmt, unter der Bedingung, dass es nur für ein paar Tage wäre. Wie konnte sie als Mutter eine derart unmittelbare Gefahr übersehen? Mark war die empfindlichste Stelle in ihrer Familie. Der Punkt, wo sie am ehesten verwundbar wären. Warum fiel es ihr nur so schwer, das zu begreifen?
    »Hilfst du mir beim Reintragen?«, fragte sie, nachdem sie den Motor abgestellt hatte.
    »Natürlich.«
    Er öffnete die Tür, und in dem Moment, als er ausstieg, zog ein stechender Schmerz durch sein rechtes Bein. Er blieb in gebückter Haltung stehen und hielt sich am Dach des Wagens fest. »Verdammt«, zischte er durch die Zähne und verzog das Gesicht.
    »Was ist?«, fragte Karin, die bereits an der Heckklappe hantierte. »Wieder das Bein?«
    »Ja«, sagte Tom und rieb sich die Stelle dicht unterhalb des Knies. Ein weiteres Andenken an den Wächter. Die Ärzte hatten ihm erklärt, dass er immer wieder mit diesen Schmerzen würde rechnen müssen. Meist holten sie ihn ein, wenn ein Wetterumbruch bevorstand oder es extrem kalt war. Noch heute waren die dunkel verfärbten Stellen zu erkennen, wo die dünnen Stifte aus seiner Haut herausgeragt hatten wie stählerne Insektenbeine, Stifte, deren kalter Stahl die Trümmer dessen zusammengehalten hatte, was einmal sein Schienbein gewesen war. Wundmale seiner dunklen Vergangenheit – Stigmata des Wahnsinns. Eine Erinnerung, auf die er keinen großen Wert legte.
    »Soll ich die Sachen in den Keller tragen?«, fragte Karin.
    »Nein, schon gut«, wehrte Tom ab. »Ich mach das schon. Mark, geh und hilf deiner Mutter.«
    Mark gehorchte wortlos und lief an das Heck des Wagens. Natürlich suchte er sich die Tüte heraus, in der die Süßigkeiten waren, und knabberte sogleich an einem Schokoriegel herum.
    »Der Rest kann in die Kühltruhe«, wies Karin ihn an und verschwand durch die graue Stahltür, die die Garage mit dem Haus verband. Mark trottete schmatzend hinterher.
    »Ich fang schon mal an zu kochen!«, hallte es noch, was für Tom heißen sollte, dass er erst gar nicht auf den Gedanken kommen solle, sich noch vor dem Essen in sein Arbeitszimmer zu verkriechen. Doch diese Befürchtung war unnötig, im Augenblick machte er lieber einen großen Bogen um seinen Arbeitsbereich, um sich nicht mit seiner Schreibblockade herumschlagen zu müssen.
    Blockaden. Im Moment war sein Leben so voll davon, dass sie vermutlich ausgereicht hätten, um den verdammten Mississippi zu stauen.
    Er stolperte über etwas, als er zum Heck des Wagens hinkte. Um ein Haar hätte er das Gleichgewicht verloren und wäre auf dem Betonboden hingeschlagen, was seinem

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