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Stigma

Stigma

Titel: Stigma Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Hübner
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bereits Jahre dort stehen, denn er war von Schlingpflanzen umwuchert, die sich bereits bis zu den Rändern hinaufgearbeitet hatten. Der Abfall darin schien jedoch frisch zu sein, als hätte erst vor kurzem jemand in dem Haus gearbeitet. Um das Gebäude herum dagegen schien alles zu verkommen. Der Rest des Zaunes, der das gesamte Grundstück umschloss, war kaum noch zu erkennen. Efeu hatte sich wie ein grüner Mantel über ihn gelegt und wucherte an manchen Stellen bereits die Hauswand empor. Es hatte fast den Anschein, als wollte die Natur sich diesen Flecken Erde mit allen Mitteln zurückerobern.
    Tom konnte durch den Zaun nicht alle Bereiche des Grundstücks einsehen. Also beschloss er zu seinem eigenen Erstaunen, etwas weiter vorzudringen. Seine plötzliche Unbefangenheit beunruhigte ihn etwas, da er es nicht gewohnt war, außerhalb seiner normalen Umgebung so zielstrebig zu agieren. Doch er verspürte einen fast zwanghaften Drang, dieses Gebäude aus der Nähe zu betrachten.
    Sachte drückte er gegen die Verstrebung, und der Maschendraht gab sofort nach und öffnete ihm einen bequemen Durchgang. Er bemerkte, dass die Stelle einmal notdürftig mit Bindedraht geflickt worden war. Die Schnittstellen waren frisch und wiesen keinerlei Rost auf. Jemand musste sich also erst vor kurzem Zutritt zu dem Gelände verschafft haben, und Tom hatte seine Zweifel, dass es sich dabei nur um ein paar Halbstarke gehandelt hatte, schließlich trugen die in der Regel keine Drahtscheren mit sich herum.
    Tom bückte sich und glitt problemlos durch die Öffnung. Obwohl die Polizei ihre Zelte mittlerweile abgebrochen und das Gelände wieder freigegeben hatte, verfing sich ein letzter Rest von rot-weißem Absperrband um den Knöchel seines Fußes. Er schüttelte es ab und drang behutsam auf das Gelände vor, immer darauf bedacht, nicht auf irgendwelche Scherbenreste oder sonstigen Abfall zu treten. Und je näher er dem Gebäude kam, desto stärker wurde das beklemmende Gefühl, das ihn jetzt einhüllte wie ein nasses Tuch. Mit jedem Schritt erhöhte sich sein Puls, und sein Atem wurde schnell und flach.
    Neben dem Haupthaus erkannte Tom jetzt inmitten von dichtem Gestrüpp einen kleinen Geräteschuppen. Die Bretter, mit denen er errichtet worden war, schimmerten in der Nachmittagssonne schmutzig grün. Moos und Schimmel hatten das Holz im Laufe der Jahre zersetzt, und die dunklen Dachbahnen waren von Wind und Wetter brüchig geworden. Alles war von Zerfall gezeichnet, was in Tom unweigerlich eine Assoziation mit Verwesung wachrief.
    Sie verlassen mich wieder.
    Der Druck der Schraubzwingen um seine Brust nahm wieder zu. Was suchst du hier eigentlich, fragte er sich, in der Gewissheit, dass er keine befriedigende Antwort bekommen würde. Insgeheim jedoch wusste er, was ihn hierhergeführt hatte. Denn jeder Schritt, den er auf diesem Gelände tat, kam ihm vor wie ein Schritt in seine Vergangenheit. Er bildete sich sogar ein, dass dieses Gebäude eine gewisse Ähnlichkeit mit dem hatte, über dessen Zaun er als Kind geklettert war. Die braunen Rahmen der Fenster. Das steil ansteigende Dach. Die roten Dachschindeln.
    Unsinn, tadelte er sich selbst. Dieses Haus war viel größer. Und massiver. Und verfallener. Und überhaupt hatte jedes verdammte Haus ein verdammtes Dach und verdammte Fenster und …
    Was war das?
    Tom blieb wie angewurzelt stehen. Hatte sich dort etwas bewegt? Die Muskeln seiner Beine begannen zu zittern, und an seinem Rücken bildeten sich kleine kalte Schweißinseln, die den dünnen Stoff seines T-Shirts tränkten. Er war sich ziemlich sicher, hinter einem der Fenster im oberen Stock einen Schatten gesehen zu haben. Nur für den Bruchteil einer Sekunde, doch er hatte ihn gesehen.
    Das bildest du dir ein, versuchte er sich zu beruhigen. Genauso wie du dir einbildest, unheimliche Botschaften auf Werbeplakaten zu sehen. Wahrscheinlich war es nur eine Spiegelung, nichts weiter.
    Dennoch verharrte sein Blick weiter auf dem Fenster, in der Hoffnung auf eine Bestätigung seiner Täuschung. Doch solange er es auch anstarrte, es blieb nur ein altes, vermodertes Fenster, hinter dem nichts zu erkennen war.
    Sein neu gewonnener Mut begann ebenso zu bröckeln wie die Fassade des alten Hauses. Was auch immer ihn dazu bewegt hatte, sich diesem Ort zu nähern, es war nacktem Unbehagen gewichen, das in jede Faser seines Körpers vordrang und ihn zum Auto zurückdrängte. Und trotzdem fiel es ihm schwer, sich der Anziehungskraft dieses

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